SCHRECKENSNÄCHTE. Eberhard Weidner
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INHALTSVERZEICHNIS
ERSTES KAPITEL: 1988 - Die fünfte Schreckensnacht
ZWEITES KAPITEL: 1984 - Die erste Schreckensnacht
DRITTES KAPITEL: 1985 - Die zweite Schreckensnacht
VIERTES KAPITEL: 1986 - Die dritte Schreckensnacht
FÜNFTES KAPITEL: 1987 - Die vierte Schreckensnacht
SECHSTES KAPITEL: 1988 - Zwei Tage vor der fünften Schreckensnacht
SIEBTES KAPITEL: 1988 - Die letzte Schreckensnacht
ERSTES KAPITEL
1988 - Die fünfte Schreckensnacht
1
Verzweifelt lief er durch die wie ausgestorben wirkenden nächtlichen Straßen der fremden Großstadt, von deren abweisenden dunklen Fassaden seine taumelnden Schritte hohl widerhallten. Doch er achtete weniger auf die Geräusche, die er selbst verursachte, sondern eher auf die, die von denjenigen stammten, vor denen er davonlief.
Und obwohl er seine unheimlichen Verfolger in dieser Nacht noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte, wusste er dennoch ganz genau, dass sie in seiner Nähe waren! Denn wie unheimliche, zu geisterhaftem Leben erweckte Schatten aus der Vergangenheit hatten sie sich an seine Fersen geheftet und schlichen nun im Schutz der Finsternis hinter ihm her.
Unsichtbar und möglichst lautlos, aber dennoch unaufhaltsam!
Oh ja, und schlau waren sie noch dazu. Verdammt schlau sogar, auch wenn in ihren zerfressenen Gehirnen mittlerweile nur noch Maden hausten. Sie hielten sich im Verborgenen und zeigten sich ihm nicht – noch nicht zumindest! Auf diese Weise wollten sie ihn in Sicherheit wiegen. Damit er unvorsichtig wurde und einen Fehler beging. Mit Sicherheit seinen allerletzten und im Endeffekt tödlichen Fehler!
Doch darauf konnten sie lange warten, schließlich wusste er um ihre schauerliche Existenz. Und er wusste auch ganz genau, dass sie in diesem Augenblick ihre nach Fäulnis stinkenden Leiber genau dort entlang schleppten, wo die Finsternis am schwärzesten war, und nur darauf lauerten, ihn in einem Moment der Schwäche zu erwischen und zwischen ihren knochigen Klauen zerreißen zu können.
Längst lief er nicht mehr, sondern wankte nur noch mit taumelnden Schritten mühsam voran, und der Zeitpunkt, an dem ihn seine Kräfte endgültig verlassen würden, war nicht mehr fern. Wenn es erst so weit war, würde er sich vermutlich nicht mehr länger auf den Beinen halten können, sondern auf dem regennassen Pflaster zusammenbrechen, zu Tode erschöpft und unfähig, sich überhaupt noch zur Wehr setzen zu können. Und dann wäre ihre Zeit gekommen. Sie würden aus ihren finsteren Verstecken hervorkriechen und mit provokativ langsamen, schlurfenden Schritten näherkommen, um sich schließlich gierig auf ihn zu stürzen und sich zu rächen. Um endlich Rache nehmen zu können für das, was er ihnen ihrer Meinung nach vor Jahren angetan hatte.
Aber es war doch nicht seine Schuld gewesen! Woher hätte er denn wissen sollen, dass diese ganze an und für sich harmlose Geschichte einen so furchtbaren Verlauf nehmen würde? Und letzten Endes hatte ohnehin das Los entschieden, wen von ihnen es traf. Dann könnte man ja genauso gut dem kürzeren Streichholz die ganze Verantwortung zuschieben, da es die Wahl entschieden hatte.
Er wischte in einer unkontrolliert wirkenden Geste mit den Armen durch die Luft, als wollte er die finsteren Erinnerungen vertreiben, die bei dem Gedanken an die damalige Streichholzwahl auf ihn einzustürzen drohten. Erinnerungen an eine Nacht voller Schrecken vor exakt vier Jahren. Und es war nicht die einzige Schreckensnacht geblieben. Denn der ersten waren weitere gefolgt – Jahr für Jahr, immer wieder –, da sie niemals aufgegeben hatten und ihn unermüdlich verfolgten. Sie jagten ihn mit einem grenzenlosen Hass, der über den Tod hinausreichte und sich tief in ihre verdammten Seelen gefressen haben musste.
Und dabei hätten sie ihn einmal sogar beinahe erwischt. So wie sie vorher die anderen gekriegt hatten. Damals war es wirklich verdammt knapp gewesen. Aber er war schlauer gewesen. Er hatte sie austricksen können und war entwischt.
Aber heute Nacht waren sie ihm erneut dicht auf den Fersen und so nahe wie schon lange nicht mehr.
(Kein Wunder, denn heute ist die letzte Schreckensnacht! Heute Nacht kriegen sie dich!)
»Nein!«, schrie er so laut, dass seine Stimme von den dunklen Häuserfronten widerhallte, und verfluchte gleichzeitig die bösartige innere Stimme für diesen grausamen und destruktiven Gedanken.
Dennoch konnte er nicht verhindern, dass die Panik erneut nach seinem Herzen griff, und urplötzlich war er davon überzeugt, eine eiskalte Klaue auf seiner rechten Schulter zu spüren, die schon in der nächsten Sekunde ihre langen, mit getrockneter Friedhofserde verkrusteten Nägel in sein Fleisch graben würde. Gehetzt warf er den Kopf herum und sah mit vor Schrecken geweiteten Augen nach hinten. Aber hinter ihm war gar nichts, nur die leere, nächtliche Straße.
Er atmete erleichtert auf. Der Moment, den er seit langer Zeit fürchtete, war noch nicht gekommen. Sie zeigten sich ihm noch immer nicht, sondern hielten sich noch eine Weile im Verborgenen. Kein Wunder, schließlich waren sie sich ihrer Sache sicher und konnten warten.
Während sein Herz noch immer rasend schnell und heftig schlug und einen Rhythmus vorgab, den er mit den Beinen schon längst nicht mehr mithalten konnte, richtete er den Blick rasch wieder nach vorn. Verlassen und wie ausgestorben lag die Straße vor ihm, die an eine Schlucht erinnerte und von der nur gelegentlich eine schmale Gasse oder der enge Zugang zu einem Hinterhof abzweigte. Rechts und links erhoben sich die Fronten der fünf- bis sechsstöckigen Wohnhäuser wie schlafende Giganten. Und die Stadt um ihn herum schlief tatsächlich. Hinter keinem der unzähligen Fenster, an denen er vorbeikam, brannte Licht. All diese unschuldigen Menschen schliefen friedlich in ihren Betten und ahnten nichts von dem Grauen, das in Gestalt seiner vier Verfolger wie ein mordgieriges, schleimiges Reptil im Schutze der Nacht durch ihre Straßen und Gassen schlich.
In regelmäßigen Abständen schufen hohe Straßenlaternen Inseln aus Licht auf dem nassen, glänzenden Asphalt. Doch es handelte sich nur um Eilande inmitten eines Meeres aus undurchdringlicher Finsternis, in dem sie sich verbargen und das sie durchpflügten wie mörderische Haifische, die Blut gerochen hatten, um ihm zu folgen, unsichtbar und nahezu geräuschlos. Bis schließlich früher oder später unweigerlich der Augenblick kommen würde, in dem sie …
Der Gedankengang endete abrupt, da er es nicht wagte, ihn weiterzuverfolgen. Nicht jetzt zumindest, wo er sich konzentrieren und auf so viele andere Dinge achtgeben musste, beispielsweise nicht zu stolpern oder zu straucheln. Außerdem war das, was sie mit ihm vorhatten, sollte er ihnen in die Hände fallen, zu grauenhaft, um es sich immer wieder aufs Neue auszumalen. Er hatte es schon