SCHRECKENSNÄCHTE. Eberhard Weidner
seinem schrecklichsten Albtraum war es ihm nämlich nicht gelungen, ihnen zu entkommen. Und so war er anschließend laut schreiend aufgewacht, weil das Entsetzen sich tief in seine Brust gefressen und mit stählerner Faust sein hämmerndes Herz umklammert hatte, um es wie eine gekochte Kartoffel zu zerquetschen. Doch die eiskalte Klaue hatte beinahe widerwillig von ihm abgelassen, und er war wieder allein gewesen. Allein mit seinen Ängsten, die ihn ständig begleiteten.
Doch heute Nacht wollten sie ihre Drohung endlich wahr und Nägel mit Köpfen machen, das spürte er mit jeder Faser seines Körpers. Heute Nacht sollte es kein Traum bleiben, aus dem er entkommen konnte, indem er erwachte. Und obwohl ihm alles noch immer wie ein Albtraum erschien, der nicht enden wollte, war es grausame Realität.
Trotz seiner Erschöpfung trugen ihn seine müden Beine noch immer Schritt um Schritt vorwärts und seinem Ziel entgegen. Allerdings kam er nur quälend langsam voran, so als wäre er noch immer in einen Traum gefangen und müsste durch kniehohen Morast waten.
Dennoch musste er sein Ziel erreichen. Ein Scheitern kam für ihn nicht infrage, denn dann würde er noch in dieser Nacht alles verlieren, was ihm geblieben war, und das war ohnehin nicht mehr viel. Deshalb durfte er jetzt auf gar keinen Fall aufgeben, nicht so kurz vor seinem Ziel. Außerdem wusste er nicht, ob er noch einmal die Kraft haben würde, wieder auf die Beine zu kommen, sollten sie ihm nun ihren Dienst versagen.
Im Grunde war es ja auch ganz einfach. Er musste immer weitergehen, egal wie, und durfte auf keinen Fall stehen bleiben. Das war alles, was für ihn heute Nacht zählte. Bloß nicht aufgeben. Selbst wenn das bedeutete, dass er kriechen musste, um es bis zu seinem Ziel, bis zu ihr zu schaffen!
Elke!
Ihr Name, den er nur in Gedanken, aber dennoch voller Liebe formulierte, beschwor sogleich ihr Bild vor seinem inneren Auge herauf. Schon ihr Anblick schenkte ihm Trost, den er in diesem Moment bitter nötig hatte, auch wenn sie vermutlich gar nicht mehr genau so aussah, wie er sie in Erinnerung hatte. Schließlich war es über vier Jahre her, dass er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Menschen veränderten sich in dieser Zeit. Auch er hatte sich in den letzten Jahren stark verändert, doch darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken.
Elke!
Sobald er bei ihr war, würde er ihr alles erzählen können. Die ganze furchtbare Geschichte in all ihren schrecklichen Details, die vor vier Jahren auf so grauenvolle Weise ihren Anfang genommen hatte, seitdem jedes Jahr mit blutiger Tinte fortgeschrieben worden war und nun schlussendlich auch noch ihn zu verschlingen drohte.
Elke würde ihm sicherlich nicht nur geduldig zuhören, sondern ihn auch verstehen und ihm vor allem Glauben schenken. Sie hatte ihn ja schon damals besser verstanden als all die anderen. Damals, als er das Leben noch in vollen Zügen genießen konnte. Als er noch nichts von den finsteren Dingen ahnte, die jenseits der Wirklichkeit auf einen lauern konnten. Als er sich weder vor Albträumen noch vor unmenschlichen Verfolgern hatte fürchten müssen. Damals, als er … als er noch Freunde besessen hatte!
Er schauderte, als er an seine Freunde dachte, verfolgte aber auch diesen Gedanken lieber nicht bis zu seinem schrecklichen Ende, sondern dachte stattdessen wieder an Elke. Sie musste ihm einfach glauben, auch wenn vieles von dem, was er erlebt hatte, auf den ersten Blick unglaublich war. Aber wieso sollte sie an seiner Geschichte zweifeln, wenn er ihr versicherte, dass er die Wahrheit sagte, nichts als die Wahrheit? Und sobald sie erst einmal alle Details kannte, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als an die Wahrhaftigkeit seiner Worte zu glauben und ihm helfen, auch wenn er momentan gar nicht wusste, wie diese Hilfe konkret aussehen könnte. Aber vielleicht kannte Elke zumindest einen Ort, wo sie ihn verstecken und seine Verfolger ihn nicht finden konnten.
(Vergiss es! Einen solchen Ort gibt es nicht. Sie finden dich überall!)
Er weigerte sich standhaft, der grausamen, flüsternden Stimme in seinem Innern Glauben zu schenken, auch wenn er es insgeheim besser wusste. Doch er wollte sich das bisschen Hoffnung, das er noch besaß, nicht nehmen lassen, sonst könnte er ja gleich aufgeben. Aber dazu war er noch nicht bereit. Solange auch nur ein Quäntchen Hoffnung bestand, würde er kämpfen. Alles, was er brauchte, war ein bisschen Hilfe. Und wenn Elke ihn unterstützte, würden sie ihn schon nicht kriegen, schließlich waren sie auch nur …
(Ja? Was genau sind sie denn deiner Meinung nach?)
Menschen!, hatte er eigentlich gemeint, doch das waren sie nicht – nicht mehr zumindest!
»Ungeheuer!«, flüsterte er deshalb mit rauer, atemloser Stimme, damit sie ihn nicht hören konnten. »Sie sind mordgierige, erbarmungslose Monster!«
Doch die Stimme in seinem Kopf gab sich damit nicht zufrieden.
(Na komm schon! Du weißt es besser!)
»Ja«, brüllte er die dunklen Häuserfronten an. »Ich weiß, was sie sind. Aber ich will nicht darüber nachdenken, nicht jetzt!«
Der Widerhall seiner Worte klang verzerrt, als würden seine Verfolger ihn mit hämischer Stimme nachäffen, um ihn zu verspotten. Doch er wusste, dass es jenseits ihrer Möglichkeiten lag, sich noch länger verständlich zu artikulieren. Nur im Traum waren sie weiterhin in der Lage zu sprechen, das hatte er selbst erlebt.
Um seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken und dadurch hoffentlich auch die flüsternde Stimme in seinem Verstand endgültig zum Verstummen zu bringen, dachte er wieder an Elke. Er war überzeugt, dass sie keine Sekunde zögern würde, ihm zu helfen, schließlich hatten sie sich früher einmal sehr geliebt. Allerdings erschien ihm das mittlerweile wie aus einem völlig anderen Leben in einer fremden Welt – einem ungleich glücklicheren Leben in einer schöneren Welt –, da seitdem so viele schreckliche Dinge geschehen waren, die seine eigene Existenz komplett umgekrempelt und ihm letztlich alles genommen hatten, was ihm früher etwas bedeutet hatte.
Die neue Route, die seine Gedanken eingeschlagen hatten, behagte ihm ebenfalls nicht besonders. Zumindest nicht in dieser Nacht, in der seine unsichtbaren Verfolger ihm so dicht auf den Fersen waren.
Er warf einen Blick auf die Schilder mit den Hausnummern an den Fassaden, an denen er vorbeikam und sah, dass es nun nicht mehr weit sein konnte. Die paar Meter würde er vermutlich auch noch schaffen, ohne vorher zusammenzubrechen. Wenn also nicht noch etwas Unvorhergesehenes dazwischenkam, wäre er bald in Sicherheit vor den grausamen Todesboten, die einem Ort entstiegen waren, der für immer und ewig hätte verschlossen bleiben sollen.
Bei Elke wäre er fürs Erste vor den Verfolgern geschützt, denn bislang hatten sie stets darauf geachtet, dass es keine Zeugen für ihre widernatürliche Existenz und ihre abscheulichen Taten gab. Solange er sich in Gesellschaft anderer Menschen befunden hatte, waren sie nicht persönlich in Erscheinung getreten, sondern hatten sich darauf beschränkt, ihn in seinen Träumen heimzusuchen. Doch ihm war stets bewusst gewesen, dass sie sich irgendwann nicht mehr darauf beschränken würden, ihm furchterregende Albträume zu schicken, sondern leibhaftig zu ihm kommen würden. Selbst verschlossene Türen, vergitterte Fenster oder massive Wände wären dann keine Hindernisse mehr für sie.
Doch noch gab es Hoffnung für ihn, die mit jedem Schritt größer wurde. Denn in Kürze würde er sein Ziel erreichen und wäre nicht länger allein. Dann wäre Elke bei ihm, und sie wären nach all den Jahren der Trennung endlich wieder vereint.
(Und was ist mit den Leuten aus der Anstalt?)
Er stöhnte leise, als ihn die verfluchte Stimme in seinem Innern, die sich allem Anschein nach durch nichts zum Schweigen bringen ließ, ausgerechnet jetzt an die Männer aus der Anstalt erinnerte, die ebenfalls hinter ihm her waren. In seiner Angst vor den anderen Verfolgern hatte er gar nicht mehr an sie gedacht.
Dabei waren die Männer aus der Anstalt nicht auf die Nacht und die Finsternis angewiesen, die sie vor neugierigen Blicken schützte. Und sie scheuten weder die Öffentlichkeit noch Zeugen für ihr Tun.
Sie sind aber längst nicht so gerissen wie die anderen Verfolger, beruhigte er sich selbst.
Denn während diese ihm mit ebenso untrüglicher Sicherheit auf der Spur blieben wie hungrige,