SCHRECKENSNÄCHTE. Eberhard Weidner
war sie auch bei brennendem Licht eingeschlafen, während sie auf ihn gewartet hatte.
Das beleuchtete Fenster wirkte auf ihn wie das Licht eines Leuchtturms im dichten Nebel, denn es schenkte ihm Hoffnung und gab ihm neue Zuversicht.
Er marschierte zurück zur Haustür und studierte das Klingelbrett, das sich rechts neben der Tür befand. Im Schein einer nahen Straßenlaterne konnte er ohne allzu große Mühe die Namen auf den kleinen Messingschildern entziffern. Und tatsächlich war in eins von ihnen der Name Elke Weber eingraviert.
Er legte seinen linken Daumen auf den kleinen Messingknopf neben ihrem Namen und ließ es mehrmals hintereinander klingeln. Am liebsten hätte er Sturm geläutet, bis ihm Elke endlich die Tür öffnete, doch er wusste, dass er ihr nicht schon auf die Nerven gehen durfte, bevor sie überhaupt ein Wort miteinander gesprochen hatten. Deshalb zwang er sich dazu, den Finger vom Klingelknopf zu nehmen und ungeduldig zu warten.
Als nach einer halben Minute, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, noch immer nichts passiert war, wurde er immer nervöser. Er ballte immer wieder die Hände zu Fäusten und entspannte sie dann wieder, während er die Straße in beiden Richtungen im Auge behielt. Doch zum Glück regte sich dort nichts. Nicht einmal das leiseste Geräusch war zu hören, sonst wäre er in seinem augenblicklichen überreizten Zustand vermutlich in die Luft gesprungen und hätte versucht, an der Hauswand hochzuklettern.
Seine linke Hand zuckte nach oben, um noch einmal, dieses Mal wesentlich ausdauernder, zu läuten, doch im gleichen Augenblick zerfetzte ein krachendes Geräusch ganz in der Nähe die nächtliche Ruhe,
(… die Ruhe der Toten …!)
das wie ein Pistolenschuss klang und ebenso laut war.
Er stöhnte erschrocken und fuhr herum. Sein erster Gedanke galt natürlich seinen Verfolgern. Kamen sie nun doch aus ihren Löchern, um ihn im letzten Moment, so kurz vor seinem Ziel abzufangen? Hatten sie die ganze Zeit nur ihr dreckiges Spiel mit ihm getrieben, um ihn zu verhöhnen, und hatten ihn hoffen lassen, er könnte sein Leben retten, um diese Hoffnung nun unter ihren verkohlten, nackten Füßen zu zertreten?
Doch da hörte er Elkes Stimme, die er sogleich wiedererkannte, und er wusste, dass es noch nicht so weit war. Sein galoppierendes Herz beruhigte sich wieder einigermaßen, sofern es in letzter Zeit überhaupt noch in einem Rhythmus geschlagen hatte, den man als normal bezeichnen konnte, und er seufzte erleichtert. Er hatte es tatsächlich geschafft. Er war am Ziel. Endlich! Er war in Sicherheit!
»Rainer? Bist du das?«
Er schaute nach oben, konnte aber aus diesem Winkel, so nah am Haus, nicht viel erkennen. Alles, was er sah, war ein Kopf, der sich aber nur als dunkler Umriss gegen das aus dem Fenster fallende Licht abzeichnete.
Es handelte sich um das Fenster, hinter dem er das Licht gesehen hatte. Und der Lärm, der wie ein Pistolenschuss geklungen und ihn so erschreckt hatte, musste entstanden sein, als Elke es aufgerissen hatte.
Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Er musste sie erst frei räuspern, bevor er zu einer verständlichen Antwort fähig war. »Ja, ich bin’s«, antwortete er krächzend, während er nervös von einem Bein aufs andere trat, als müsste er dringend aufs Klo. »Tut mir leid, aber … aber es ist etwas später geworden.« Wie belanglos und geradezu normal seine Worte doch klangen. Unbeschreibliche Schrecken lagen hinter ihm und grausame Monster waren hinter ihm her, und dennoch benahm er sich, als wäre er nur etwas zu spät aus der Kneipe nach Hause gekommen.
Danach herrschte wieder für mehrere Augenblicke Stille, in der er nur das Blut hinter seinen Schläfen rauschen hören konnte. Erneut regte sich die Panik in ihm und hob ihr hässliches Haupt, als ihm der Gedanke kam, dass Elke es sich doch anders überlegt haben könnte. Wird sie mich jetzt etwa doch im Stich lassen?, fragte er sich bang. Vielleicht hatte sie ja das Blut auf seiner Stirn und die völlig verdreckte und durchnässte Anstaltskleidung gesehen, und war sich nun gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt eine so gute Idee war, ihn in diesem Zustand und noch dazu mitten in der Nacht in ihre Wohnung zu lassen.
»Pass auf, Rainer, ich werfe dir den Schlüssel hinunter«, hörte er sie dann jedoch zu seiner grenzenlosen Erleichterung mit gedämpfter Stimme sagen. »Hier, fang auf!«
Schon im nächsten Moment fiel ein kleiner Gegenstand nach unten und reflektierte das Licht der Straßenlaternen, als er immer wieder aufblitzte, während er sich um die eigene Achse drehte. Rainer wollte ihn auffangen, reagierte jedoch zu träge. Und so fiel der Schlüssel zwischen seinen zupackenden Händen hindurch und landete klirrend vor seinen Füßen. Er bückte sich, wobei er jeden einzelnen Muskel in seinem erschöpften Leib zu spüren glaubte, und hob ihn auf. Als er sich wieder aufgerichtet hatte und noch einmal nach oben zum Fenster sah, war Elkes Silhouette bereits verschwunden. Wahrscheinlich war sie schon unterwegs zur Wohnungstür, um für ihn aufzumachen.
Er trat ganz nahe an die Haustür und schob mit zitternden Fingern – er war sich nicht sicher, ob das Zittern von der Kälte oder hauptsächlich von seiner Angst herrührte – den Schlüssel ins Schloss. Er musste ihn mehrmals im Schloss drehen, bevor sich die Tür öffnen ließ. Ehe er ins Haus schlüpfte, sah er sich sicherheitshalber noch einmal um und lauschte gleichzeitig auf verdächtige Geräusche. Doch die Straße lag wie ausgestorben da,
(Gestorben, wie wahr!)
und außer seinem eigenen Schnaufen und dem Pochen des Blutes in seinen Schläfen nahm er kein anderes Geräusch wahr. Erleichtert huschte er durch den Spalt ins Treppenhaus, ließ die Tür hinter sich krachend ins Schloss fallen und lehnte sich dann erschöpft mit dem Rücken dagegen.
4
Er atmete mehrere Male tief durch und spürte dabei, wie sich ein Teil seiner enormen Anspannung auflöste, denn vorerst war er wieder in Sicherheit.
Er hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte alles auf eine Karte, genauer gesagt, auf seine ehemalige
(… und letzte …)
Freundin Elke gesetzt und tatsächlich gewonnen. Jetzt konnte er in Ruhe mit ihr reden und ihr die ganze verfluchte Geschichte erzählen. Und im Gegensatz zu allen anderen würde sie ihm glauben, was er sagte, davon war er felsenfest überzeugt. Denn Elke war anders als die Typen in der Anstalt, die verständnisvoll nickten, ihn gleichzeitig aber insgeheim auslachten und dachten: Du kleiner irrer Scheißer bleibst bis zum Ende deines beschissenen Lebens in unserer VIP-Luxus-Suite für die total Durchgeknallten!
Nein, so wie diese Leute würde Elke niemals auf seine Geschichte reagieren, auch wenn diese sich noch so haarsträubend anhörte. Sie würde ihm nicht nur glauben, was er ihr erzählte, sondern würde ihm anschließend auch helfen, einen Ausweg aus diesem ausweglos erscheinenden Schlamassel zu finden. Auch wenn sie ihn dazu höchstpersönlich irgendwo hinbringen müsste, wo ihn seine Verfolger nicht fanden.
(Träum weiter, Junge. So einen Ort gibt es auf der ganzen verschissenen Welt nicht!)
Vielleicht doch. Denn unter Umständen reichte es schon, wenn Elke ihm Geld für ein Flugticket nach Südafrika, Südamerika oder nach Australien lieh. Diese Orte waren nicht nur beruhigend weit weg von hier, es lagen auch große und tiefe Meere dazwischen, die sogar für die unmenschlichen Wesen, die ihn jagten, nicht so leicht zu überwinden sein dürften. Außerdem war es dort nicht so kalt, sondern angenehm warm.
(Du vergisst, dass du schon ein Ticket gebucht hast, mein Freund, und zwar direkt in die Hölle. Da ist es übrigens auch schön warm …)
Das Aufflackern der Treppenhausbeleuchtung ließ die innere Stimme verstummen und riss ihn aus seinen Überlegungen.
Gleich darauf ertönte Elkes besorgte Stimme: »Rainer, alles in Ordnung bei dir?«
(Nichts ist in Ordnung, Baby. Überhaupt nichts!)
Er nickte so heftig, als wollte er auf diese Weise die grausame Stimme in seinem Kopf und ihre Lügen zum Schweigen bringen, bis ihm einfiel, dass Elke ihn gar nicht sehen konnte. »Ja, … ja, ich komme gleich«, rief er und machte sich auch