SCHRECKENSNÄCHTE. Eberhard Weidner
Veränderung sein. Oder doch?
Aufgrund der lebhaften Erinnerung hatte sie noch immer ein deutliches Bild seines früheren Selbst vor Augen, das sich nun wie eine Doppelbelichtung über das schob, was sie vor sich sah, und so einen unmittelbaren Vergleich erlaubte.
Damals hatte er sein dunkelbraunes Haar schulterlang getragen und täglich gewaschen. Außerdem war stets tadellos rasiert gewesen. Sein jetziges Aussehen war Welten davon entfernt, sodass sie sich sie in diesem Moment am liebsten umgedreht hätte, zurück in ihre Wohnung gerannt wäre, die Tür hinter sich zugeschlagen und den Schlüssel umgedreht hätte. Denn der Mann, der ihr im kalten Licht der Treppenhausbeleuchtung gegenüberstand, konnte nie und nimmer derselbe Mensch sein, den ihre Erinnerung ihr zeigte. Stattdessen schien ein Fremdling vor ihr zu stehen, dem sie noch nie zuvor begegnet war.
Doch sie unterdrückte den Fluchtreflex und blieb, wo sie war, denn ihr Verstand wusste es besser und erkannte an einigen wenigen charakteristischen und unveränderlichen Merkmalen, dass es doch stimmte und es sich tatsächlich um Rainer handelte. Aber was konnte geschehen sein, dass sich ein Mensch innerhalb weniger Jahre so dramatisch zu seinem Nachteil verändert hatte?
Vielleicht ist das ja sein anderes, sein wahres Ich, flüsterte etwas in ihr, das sie nur entfernt an ihre eigene Stimme erinnerte, weil sie viel kühler, rationaler und emotionsloser klang. Das ist vermutlich die dunkle, zerstörerische Seite von ihm, die erst zum Vorschein kam, nachdem wir uns getrennt hatten. Doch sie brachte die innere Stimme, deren Emotionslosigkeit sie frösteln ließ, energisch zum Verstummen, und sah den Mann, der so fremd auf sie wirkte, stattdessen noch einmal etwas genauer an.
Wie das sprichwörtliche Gestalt gewordene Häufchen Elend stand er vor ihr und schien nicht nur etwas mehr als die vier Jahre, die tatsächlich vergangen waren, sondern mindestens zehn Jahre älter geworden zu sein. Die ehemals schulterlangen Haare waren nur noch halb so lang wie ein Streichholz und ungepflegt, und die verklebten Strähnen standen wie Borsten vom Kopf ab. Elke erkannte sogar einen Streifen aus weißem Haar, der sich wie eine gekrümmte Schlange quer über den Kopf zog. Rainers untere Gesichtshälfte war von schmutzstarrenden, teilweise ergrauten Bartstoppeln übersät, und der Mund war zu einem Ausdruck voller Bitterkeit verzogen, der auf lang erduldetes Leid hinzuweisen schien. Das Gesicht war so eingefallen und hager, dass man deutlich die darunterliegenden Knochen des Schädels erkennen konnte, und zahlreiche tiefe Furchen hatten sich kreuz und quer in die Haut gegraben, was vorwiegend dazu beitrug, ihn wesentlich älter aussehen zu lassen, als er tatsächlich war.
Doch was sie in diesem Moment an ihm am meisten erschreckte, waren seine Augen, die wie zwei entzündete Wunden wirkten. Sie waren dunkel umrandet und blutunterlaufen, lagen tief in ihren Höhlen und glänzten fiebrig. Vor allem gefiel Elke der Blick nicht, mit dem Rainer sie ansah, obwohl sie gar nicht hätte sagen können, was der sonderbare Ausdruck darin zu bedeuten hatte. Dennoch ließ er sie unwillkürlich erschaudern und machte ihr Angst. Man sagt ja, dachte sie, dass die Augen die Fenster zur Seele seien. Doch wenn das tatsächlich so war, dann wollte Elke lieber keinen intensiveren Blick durch diese beiden Fenster in Rainers Inneres werfen.
Siehst du denn nicht, dass er wahnsinnig ist und vermutlich komplett den Verstand verloren hat?, meldete sich erneut die Stimme in ihrem Kopf mit neu gewonnener Kraft zu Wort.
Doch bevor sie genauer über diese naheliegende Vermutung und die möglichen Konsequenzen für sich selbst nachdenken konnte, fiel ihr zum ersten Mal die Wunde in der Mitte seiner Stirn auf. Sie wirkte frisch, blutete allerdings nicht mehr, sondern war von einer dünnen Kruste aus geronnenem Blut bedeckt. Sie sah aus wie ein Stigma. Ihre berechtigten Zweifel an seiner geistigen Gesundheit wurden mit einem Schlag in den Hintergrund ihres Denkens gedrängt, als sie realisierte, dass er verletzt war und Hilfe benötigte. Und da sie in der Lage war, ihm zu helfen, indem sie ihn in ihre warme Wohnung ließ, ihm trockene Sachen zum Anziehen gab und seine Wunde verarztete, zögerte sie nun auch nicht mehr länger.
»O mein Gott, Rainer, du hast dir ja wehgetan!« Sie ging zu ihm, nahm den noch immer Reglosen kurzerhand am Arm und zog ihn mit sich in ihre Wohnung. Er ließ es geradezu emotionslos und teilnahmslos über sich ergehen, während seine Augen noch immer an ihrem Gesicht hingen, als wollte er jede einzelne neu hinzugekommene Linie darin erkunden. Elke konnte nun keine Spur mehr von dem entdecken, was ihr zuvor Angst eingejagt hatte, sondern nur noch das Leid und die Qualen darin erkennen, die er durchgemacht haben musste. Sie verbannte daher fürs Erste alle Zweifel und Ängste aus ihrem Bewusstsein – Habe ich mich denn tatsächlich vor ihm, vor Rainer gefürchtet?, fragte sie sich verwundert. –, denn es war nun wichtiger, dass seine Verletzung versorgt wurde und er aus den nassen Sachen und ins Warme kam. »Los, komm mit! Ich werde deine Wunde versorgen. Das sieht ja böse aus. Wer hat dich denn so zugerichtet?« Die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihr heraus, als wollte sie die emotionslose Stimme in ihrem Hinterkopf damit zum Schweigen bringen.
Doch die Zweifel waren, einmal geweckt, hartnäckig und ließen sich nicht so einfach beiseite drängen. Wie unerwünschte Besucher klopften sie erneut leise an die Pforte ihres Verstandes und begehrten energisch Einlass in ihr Denken. Was ist nur mit ihm geschehen?, fragten sie. Und weiter: Vor wem oder was fürchtet er sich nur dermaßen? Denn dass er große Angst hatte, das konnte man deutlich sehen? Und ist das, vor dem er davonzulaufen scheint, noch immer hinter ihm her? Wird es ihn vielleicht sogar bis hierher, bis in meine Wohnung verfolgen? Eine Frage folgte der anderen, bis sie in ihrem Verstand umeinander kreiselten wie in einem Kettenkarussell.
Elke hatte jetzt jedoch weder Zeit noch Lust, sich Gedanken über mögliche Antworten auf diese Fragen zu machen. Daher schloss sie nicht nur energisch die Wohnungstür hinter ihnen, sondern gleichzeitig auch in ihrem Verstand eine imaginäre Tür zwischen ihrem Denken und den wirbelnden Fragen.
Sie ließ Rainers Arm los, der kraftlos nach unten fiel wie bei einer Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren. Für den Bruchteil einer Sekunde verkrampften sich die Finger zitternd und ballten sich zur Faust, ehe sie sich wieder entspannten.
Während sie das beobachtete, lief Elke ein weiterer Schauder über den Rücken, der sich wie ein eiskalter Knochenfinger anfühlte, der an ihrer Wirbelsäule entlang nach unten strich. Sie befand sich in einem inneren Zwiespalt, denn einerseits litt sie mit Rainer und wollte ihm unbedingt helfen, andererseits machte er ihr aber auch ein bisschen Angst. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, vor was sie sich mehr fürchtete: vor Rainer selbst oder vor dem, was in der Lage war, ihm solche Angst einzujagen, und vor dem er davonlief.
»Ich bin hingefallen«, sagte er plötzlich in einer Art und Weise, die sie unweigerlich an ein kleines Kind erinnerte. Es dauerte einen kurzen Moment, bevor Elke begriff, dass es sich um die verspätete Antwort auf ihre Frage nach seiner Stirnverletzung handelte. Trotzdem erweckte er noch immer den Eindruck eines Schlafwandlers, wie er mit herabbaumelnden Armen und schlaffem Gesichtsausdruck vor ihr stand. Er sah ihr zwar in die Augen, schien sie jedoch überhaupt nicht wahrzunehmen, sondern durch sie hindurchzusehen.
Dann jedoch straffte sich sein Körper, und er schien wieder in die Realität zurückzufinden, als wäre er soeben aus einem Traum erwacht. In seine Augen kehrte Leben zurück, und er sagte mit flehender Stimme: »Elke, du musst mir unbedingt helfen!«
Sie sagte nichts dazu, nahm ihn stattdessen erneut am Arm und ging mit ihm durch den Flur ins Wohnzimmer, wo sie ihn wortlos zu einem schwarzen Ledersessel führte. Er nahm zwar gehorsam Platz, als sie ihn mit einer Geste dazu aufforderte, doch sein ganzer Körper wirkte dabei angespannt und wie auf dem Sprung, als rechnete er damit, jeden Moment wieder aufspringen und davonlaufen zu müssen.
Sie bemühte sich, ihn zu beruhigen und ihm ein wenig seiner Angst zu nehmen. »Natürlich helfe ich dir, soweit ich dazu in der Lage bin, Rainer. Das versteht sich doch von selbst. Aber zuallererst werde ich mich um deine Verletzung kümmern. Ich muss den Dreck entfernen, damit sie sich nicht entzündet. Aber vorher ziehst du gefälligst die nassen Sachen aus. Ich hol dir so lange trockene Sachen zum Anziehen.«
Er nickte wie ein folgsames Kind, das artig seiner Mutter zuhörte, während Elke erstmals seine Kleidung genauer in Augenschein nahm. Sie war nicht nur nass, wie sie jetzt sah, sondern auch ziemlich verdreckt, so