SCHRECKENSNÄCHTE. Eberhard Weidner
Freizeit anhatte. Es handelte sich um eine Hose, ein Hemd und eine kurze Jacke aus strapazierfähigem, blauem Stoff, die der robusten Berufsbekleidung von Handwerkern oder Bauarbeitern ähnelten. Trotz des festen, groben Stoffs waren die Kleidungsstücke für die gegenwärtige Witterung viel zu dünn, sodass es kein Wunder war, dass Rainer einen durchgefrorenen Eindruck machte. Darüber hinaus waren ihm die Sachen mindestens eine Nummer zu groß, unmodern geschnitten und wirkten eher wie die Kleidung eines Strafgefangenen oder eines …
Sie würgte den Gedanken ab, ehe er sich vervollständigen konnte, schüttelte energisch den Kopf und schalt sich selbst eine Närrin. Rainer benötigte jetzt zuallererst ihre Hilfe. Seine Wunde musste versorgt werden und er brauchte trockene Sachen zum Anziehen. Über alles andere konnte sie sich später immer noch Gedanken machen.
Sie wandte sich abrupt ab und verließ das Wohnzimmer, um trockene Kleidung aus ihrem Schlafzimmer und Verbandsmaterial aus dem Bad zu holen.
6
Nachdem Elke ihn allein gelassen hatte, sah sich Rainer zum ersten Mal genauer in dem kleinen Wohnzimmer um, in dem er gelandet war. Dabei löste sich nach und nach seine innere Anspannung, und er begann langsam damit, sein Hemd aufzuknöpfen.
Sein interessierter Blick fiel als Erstes auf eine Schrankwand aus hellem Holz, die beinahe die gesamte Längswand einnahm, die dem noch immer offen stehenden Fenster gegenüberlag. In den zahlreichen Fächern standen die üblichen Dinge: Bücher, Bilderrahmen, Fotoalben, eine kleine kompakte Stereoanlage, ein Fernsehgerät und verschiedene Ziergegenstände aus Porzellan und Glas. Ein Stück weiter rechts, neben der Tür, stand ein kleineres Rattan-Regal, auf dem mehrere Zimmerpflanzen ihren Platz gefunden hatten. Den Rest des Raumes nahm eine lederne Sitzgruppe ein, die aus einer kleinen Couch und zwei Sesseln bestand, die sich um einen niedrigen Couchtisch mit gläserner Platte gruppierten. Und überall an den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Zeichnungen in den unterschiedlichsten Größen.
Auch ohne einen näheren Blick auf die Bilder wusste er, dass sie ausnahmslos von Elke stammten. Schon damals, als sie noch in ihrem gemeinsamen Heimatort gelebt hatte und sie miteinander gegangen waren, wie man so sagte, war sie eine begabte Zeichnerin gewesen und musste ihr Talent an der hiesigen Kunsthochschule in den letzten Jahren noch um Einiges verfeinert haben.
Als sie noch zusammen gewesen waren, hatte sie auch von ihm ein Porträt gezeichnet und ihm zum neunzehnten Geburtstag geschenkt. Nach ihrer Trennung hatte er die gerahmte Zeichnung gehütet wie seinen Augapfel und ihr einen Ehrenplatz eingeräumt. Sie hatte direkt neben seinem Bett an der Wand gehangen, sodass er sie jeden Abend vor dem Einschlafen und jeden Morgen nach dem Aufwachen ansehen konnte. Und dabei hatte er stets sehnsuchtsvoll an Elke gedacht.
Doch er besaß das Bild längst nicht mehr. Es war den Flammen zum Opfer gefallen.
Der Gedanke genügte, um eine ganze Reihe von Erinnerungsbildern an das Feuer heraufzubeschwören, das sein gesamtes Hab und Gut vernichtet hatte. Doch daran wollte er jetzt gar nicht denken, sondern lieber den kostbaren Augenblick genießen in dem Wissen, dass er in Elkes Wohnzimmer saß und sie nur wenige Schritte von ihm entfernt war. Zum Glück kehrte Elke in diesem Moment ins Wohnzimmer zurück. Ihr Auftauchen lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf sie und sorgte dafür, dass sich die schlimmen Erinnerungen auflösten wie Nebelschwaden im Sonnenlicht. Über Elkes linkem Unterarm hing frische Wäsche, während sie in der rechten Hand einen kleinen Verbandskasten trug. Sie legte die Kleider auf den Glastisch und setzte sich dann neben ihn auf die Sessellehne.
»Dann lass uns mal mit dem Verarzten anfangen, Rainer«, sagte sie, während sie den Verbandskasten öffnete.
Rainer zuckte mehrere Male zusammen, als sie die verkrustete Wunde sorgfältig reinigte und dann mit Desinfektionsmittel behandelte, und zerbiss mehr als nur einen Schmerzenslaut tapfer zwischen den Zähnen. Doch die Behandlung war relativ rasch vorbei, da die Wunde nicht so schwerwiegend war, wie sie aussah. Zum Abschluss klebte Elke noch ein großes Pflaster über die Verletzung.
»Gut, das war’s schon«, sagte sie zufrieden, stand auf und ging zum Fenster, um es zu schließen. »Und jetzt zieh dich bitte um, bevor du dir in den nassen Sachen noch den Tod holst. Ich mach uns inzwischen Kaffee. Den können wir wahrscheinlich beide ganz gut gebrauchen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer erneut, um ihm Gelegenheit zu geben, sich ungestört umzuziehen.
Sobald Elke das Zimmer verlassen hatte, entledigte er sich rasch seiner Kleidung. Er fröstelte ein wenig, als er nur in Unterhose dastand, denn da das Fenster eine Weile offen gestanden hatte, war es etwas kühl im Zimmer.
Während er die trockenen Sachen anzog, die sie für ihn hingelegt hatte, echote ein Satz von Elke durch seinen Verstand, als wäre es ein Ohrwurm, den man im Radio gehört hat und nicht mehr aus dem Kopf kriegt: Und jetzt zieh dich bitte um, bevor du dir in den nassen Sachen noch den Tod holst, hatte sie gesagt. Dabei waren nasse Klamotten seine geringste Sorge, denn der Tod war ihm schon längst leibhaftig ganz dicht auf den Fersen und scherte sich vermutlich einen Dreck darum, ob er ihn in trockener oder nasser Kleidung in die Finger bekam. Auch jetzt, in diesem Moment, lauerte er irgendwo dort draußen, aber zweifellos ganz in der Nähe in der Finsternis und wartete nur auf den richtigen Moment und die passende Gelegenheit, um vernichtend zuschlagen zu können. Hoffentlich kam er wenigstens nicht auf die Idee, hierher in Elkes Wohnung zu kommen.
Nachdem Rainer sich fertig umgezogen und wieder hingesetzt hatte – die schlabbrige Jogginghose aus dunkelblauem Stoff, der weite Kapuzenpullover und die Tennissocken mussten Elke gehören, passten ihm aber trotzdem ganz gut, weil er viel dünner war als früher –, kehrte Elke zurück, in den Händen zwei große dampfende Tassen mit aromatisch duftendem Kaffee. Eine stellte sie vor ihm auf den Tisch. Er bedankte sich mit einem Nicken und nahm sofort einen großen Schluck. Elke setzte sich ihm gegenüber auf die Couch, schlug die Beine übereinander und trank aus ihrem Kaffeebecher, den sie mit beiden Händen umfasst hielt, als wäre ihr kalt und sie müsste sich daran aufwärmen.
Rainer schloss für einen Moment die Augen und genoss das angenehme Gefühl, als ihn die wohlschmeckende, heiße Flüssigkeit erfüllte und von innen wärmte. Um die angenehme Empfindung perfekt zu machen, fehlte seiner Meinung nach nur noch eine Dosis Nikotin. »Hast du auch Zigaretten da?«, fragte er Elke, während er darüber nachdachte, wie lange er schon nicht mehr geraucht hatte. Es musste Monate her sein, seit er sich zum letzten Mal eine Zigarette angesteckt hatte.
Elke nickte, stellte ihre Tasse auf den Tisch und brachte aus einer der beiden großräumigen Taschen an ihrem Morgenmantel eine Zigarettenschachtel und ein Einwegfeuerzeug zum Vorschein. Nachdem sie sich selbst eine Zigarette genommen und angezündet hatte, warf sie ihm Schachtel und Feuerzeug über den Tisch hinweg zu.
Es gelang ihm zumindest, mit einer Hand das Feuerzeug zu fangen. Die Schachtel landete in seinem Schoß, richtete dort jedoch aufgrund ihres geringen Gewichts keinen Schaden an.
»So, Rainer, jetzt erzähl mir aber bitte mal, was hier eigentlich los ist!«, forderte Elke ihn auf, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte und mit dem Feuerzeug in Brand setzte. »Zuerst rufst du mich am Abend aus heiterem Himmel an, nachdem wir jahrelang nichts voneinander gehört haben, und zwar, wie du sagtest, vom Bahnhof, von wo man sogar zu Fuß in weniger als zwanzig Minuten hier sein kann. Dennoch dauert es anschließend fast fünf Stunden, bis du endlich hier aufkreuzt. Und dann auch noch in diesem erbärmlichen Zustand.« Dabei deutete sie mit der Hand, in der sie die Zigarette hielt, zuerst auf seine bepflasterte Stirn und danach auf die abgelegte, schmutzige Kleidung, die in einem Haufen auf dem Boden neben seinem Sessel lag.
»Sie … sie verfolgen mich!«, platzte es aus ihm heraus, bevor er auch nur überlegen konnte, wie er seine Geschichte vernünftigerweise beginnen sollte, ohne sofort wie ein Irrer mit Verfolgungswahn zu wirken.
Elke hob überrascht die Augenbrauen und machte den Mund auf, als wollte sie etwas darauf erwidern, schloss ihn dann aber doch wieder, ohne einen Laut von sich zu geben.
Durch ihr Schweigen fühlte sich Rainer ungewollt dazu veranlasst, weitere Einzelheiten preiszugeben, auch wenn ihm gleichzeitig bewusst war, dass sie Elke