SCHRECKENSNÄCHTE. Eberhard Weidner

SCHRECKENSNÄCHTE - Eberhard Weidner


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nach Bohnerwachs.

      Das Treppensteigen bereitete ihm größere Mühe, als er erwartet hatte. So erschöpft und müde, wie er momentan war, konnte er gut nachempfinden, wie man sich als alter Mann fühlen musste.

      (So alt, wie du dich fühlst, wirst du nicht werden! Das werden deine Freunde nämlich nicht zulassen.)

      Hinzu kam, dass nahezu sämtliche Knochen und Muskeln bei jedem Schritt Schmerzimpulse durch seinen geschundenen Körper schickten und die Wunde an seiner Stirn pochte, seit er das deutlich wärmere Treppenhaus betreten hatte.

      Obwohl er nur in den ersten Stock musste, drohte ihn mehrmals die Kraft zu verlassen, und die Beine wollten ihm den Dienst versagen. Aber immerhin war er jetzt im Haus, und ein Zusammenbruch, der im Freien vermutlich unweigerlich zu seinem Tod geführt hätte, wäre hier drin nur ein Ärgernis. Doch er biss die Zähne zusammen und kämpfte sich tapfer und verzweifelt eine Stufe nach der anderen hinauf, als müsste er die letzten Meter bis zum Gipfel eines Achttausenders erklimmen. Schließlich konnte er seinem Körper in wenigen Augenblicken die dringend benötigte Ruhe gönnen, sobald er Elkes Wohnung erreicht hatte. Was bis vor Kurzem allerdings noch ein Kinderspiel für ihn gewesen war, wurde nun zu einem mittelschweren Martyrium, das einfach kein Ende zu nehmen schien.

      Doch da bekanntlich alles irgendwann ein Ende hat,

      (Insbesondere das Leben, hahaha!)

      erreichte er schließlich die erste Etage.

      Er fühlte sich, als hätte er soeben den Mount Everest bestiegen – zu Tode erschöpft, aber gleichzeitig stolz auf das eigene Durchhaltevermögen –, und blieb schwer atmend auf dem Treppenabsatz stehen, um zu verschnaufen und sich zu orientieren, wo er hinmusste. Rechts und links befanden sich Wohnungstüren, allerdings war die linke geschlossen, während die rechte weit und einladend offen stand. Im Wohnungsflur dahinter brannte Licht. Als die Lampen im Treppenhaus nach Ablauf der eingestellten Zeitdauer automatisch ausgingen, fiel nur noch durch die geöffnete Wohnungstür etwas Licht ins Treppenhaus. Das meiste wurde jedoch von der Gestalt abgeschirmt, die wie ein bedrohlicher schwarzer Schattenriss im hellen Rechteck der offenen Tür stand.

      Rainers Herz setzte aus, als die finstere Gestalt die Hand hob. Einen schrecklichen Moment lang befürchtete er tatsächlich, seine Verfolger könnten ihm zuvorgekommen sein und einer von ihnen würde ihm gleich mit einem einzigen tödlichen Streich die Kehle aufschlitzen oder gleich den ganzen Kopf von den Schultern reißen.

      Doch da erwachte die Treppenhausbeleuchtung zu neuem Leben, und in ihrem Licht erkannte er, dass es sich bei der Gestalt im Türrahmen nicht um einen seiner albtraumhaften Verfolger, sondern um Elke handelte, die die Hand gehoben hatte, um nach dem Lichtschalter zu greifen und das Licht anzuschalten. Nachdem sie das getan hatte, ließ sie die Hand wieder sinken und vergrub sie in der Tasche ihres Morgenmantels.

      Keiner von beiden ergriff als Erster das Wort und sagte etwas. Stattdessen standen sie sich in einem Abstand von weniger als zwei Metern schweigend gegenüber, als würden sie von einer unsichtbaren Mauer getrennt werden, die aus den massiven Ziegeln der verstrichenen Zeit erbaut worden war, seitdem sie sich nicht mehr gesehen hatten und in der sie einander fremd geworden waren. Und wie zwei völlig Fremde, die sich zufällig an der Bushaltestelle oder an der Supermarktkasse begegneten, musterten sie sich nun aufmerksam gegenseitig, um sich ein erstes Bild vom jeweils anderen zu machen.

      Trotz der Entfremdung, die aufgrund der vergangenen Jahre und ihrer getrennten Lebenswege, die so unterschiedlich verlaufen waren, unweigerlich eingetreten sein musste, entdeckte Rainer überraschend viel Vertrautes in seinem Gegenüber, sodass er Elke sogar dann sofort wiedererkannt hätte, wenn sie sich zufällig auf der Straße begegnet wären, denn sie hatte sich, seitdem er sie zuletzt gesehen hatte, ganz im Gegensatz zu ihm kaum verändert, so als wäre für sie beide unterschiedlich viel Zeit verstrichen. Daher kam es ihm nun auch so vor, als würden die vergangenen Jahre, die sie getrennt voneinander verbracht hatten, in diesem Augenblick des Wiedersehens dahinschmelzen wie ein Schneeball in der Hölle.

      (Apropos Hölle. Ich störe diese schnulzige Wiedersehensszene zwar nur ungern, aber ich muss dich dennoch daran erinnern, dass du vermutlich noch vor Tagesanbruch genau dort landen wirst, wenn deine Verfolger dich in die Finger kriegen.)

      Doch Rainer ließ es ausnahmsweise nicht zu, dass die bösartige Stimme in seinem Verstand ihn wie gewohnt irritierte und diesen kostbaren Moment mit ihrem verqueren Humor – oder mit dem, was sie für Humor hielt – zerstörte, und achtete nicht auf ihre gehässigen Worte.

      Stattdessen fragte er sich, ob Elke in den letzten Jahren noch schöner geworden war, obwohl sie in seiner Erinnerung schon immer wunderschön gewesen war. Ihr hellblondes Haar, das er immer so geliebt hatte, war jetzt zwar ein Stück kürzer, als sie es damals getragen hatte, ansonsten hatte sich ihr Äußeres allerdings nicht großartig verändert. Und obwohl ihr Gesicht vom Schlaf gezeichnet war und müde wirkte und ihr Haar zerwühlt aussah, war sie in seinen Augen eine der attraktivsten Frauen, die er kannte.

      (Na ja! Allzu viele Frauen kennst du ja nicht, oder?)

      Der größte Unterschied zu früher bestand vermutlich darin, dass sie nicht mehr das junge Mädchen war, das er gekannt hatte, sondern eine erwachsene Frau. Dennoch drohte er nun erneut in ihren grünen Augen zu versinken, die über die Jahre nichts von ihrer Ausstrahlungskraft verloren hatten und noch genauso strahlten wie damals, als sie sich in der Diskothek kennengelernt hatten. Erinnerungen, die er lange Zeit tief in seinem Bewusstsein vergraben hatte, weil sie ihm Schmerzen bereitet hatten, überfluteten ihn plötzlich mit farbenfrohen, leuchtenden Bildern. Der erste etwas unbeholfene Kuss im strömenden Regen. Endlose Spaziergänge im Wald. Das erste Mal, als sie miteinander geschlafen hatten, dann aber alles so fürchterlich danebengegangen war und er sich trotz ihrer tröstenden Worte maßlos geschämt hatte. Immer neue Erinnerungsbilder kamen und drohten seinen Verstand zu überschwemmen. Doch obwohl er sie in diesem Augenblick genoss, riss er sich dennoch zusammen und verdrängte sie energisch. Schließlich war er nicht hierhergekommen, um in schönen Erinnerungen zu schwelgen. Sein Besuch hatte einen anderen, viel ernsteren Hintergrund.

      5

      Auch Elke musterte den nächtlichen Besucher, der vor ihr im Treppenhaus stand, aufmerksam. Sie musste allerdings mit Entsetzen feststellen, dass er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Jungen von damals hatte, mit dem sie fast zwei Jahre lang zusammen gewesen war. Der Mann vor ihr sah nämlich eher aus wie etwas, das die Katze nach einem nächtlichen Beutezug nach Hause schleppt, nachdem sie es stundenlang gequält hat, und dann als Geschenk an ihre menschlichen Dienstboten auf der Türschwelle liegen lässt.

      Er muss krank sein!, war daher Elkes erster Gedanke. Denn ihrer Meinung nach konnte sich kein Mensch in wenigen Jahren in solch einem Ausmaß verändern, wenn mit ihm gesundheitlich alles in Ordnung war.

      Als sie ihn verlassen hatte, war er ein etwas pickeliger, aber dennoch attraktiver, lebenslustiger junger Mann von fast neunzehn Jahren gewesen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie seine großen dunkelbraunen Augen sie traurig angesehen hatten, nachdem sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie nicht nur ihre Beziehung beenden, sondern sogar aus dem Ort wegziehen würde.

      Er hatte sie damals gar nicht nach den Gründen gefragt, weder für die Trennung noch für den Umzug. »Wenn du woanders hinziehst, ist eine Trennung vermutlich unumgänglich, obwohl es momentan noch verdammt wehtut«, hatte er bemüht tapfer gesagt und ihr zum Abschied einen letzten Kuss gegeben, allerdings nicht mehr auf den Mund, sondern nur noch auf die Stirn. Anschließend hatte er sich ohne ein weiteres Wort umgedreht und war mit hängendem Kopf weggegangen. Seine Schultern und sein Oberkörper hatten dabei gezuckt, als hätte er heftig geweint. Er hatte sich aber nicht mehr nach ihr umgesehen, während sie ihm hinterhergeblickt hatte, und seit diesem Moment hatten sie sich nicht mehr gesehen.

      Rückblickend erkannte sie, dass es vermutlich das einzige Mal gewesen war, als sie ihn wirklich unglücklich gesehen hatte, denn sonst war er stets fröhlich und gut gelaunt gewesen. Und so überkamen sie plötzlich heftige Schuldgefühle, als sie sich fragte, ob etwa sie an seinem jetzigen Zustand schuld war, weil sie ihn damals verlassen hatte? Aber


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