Tigermädchen. Delia Muñoz
Melanies Teenageralter immer noch gut verstand, wie Melanies Eltern häufig betonten. In der Küche schenkte sich Melanie eine Tasse Kaffee ein, rührte darin herum, obwohl sie bloß Milch hinzugefügt hatte, und lugte ihrem Vater über die Schulter. Ihr Blick blieb an seiner Zeitung hängen, während ihr Vater sich umdrehte.
„Guten Morgen, wie fühlt sich der letzte Schultag an?“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Melanie lachte. „Gut, wäre nur noch besser, wenn die Schule ganz ausfallen würde.“
Melanies Mutter drehte sich ebenfalls um und umarmte sie, was echt ein Kunststück war, da beide Kaffeetassen in den Händen hielten. „Na komm, heute ist nicht mal richtiger Unterricht“, munterte sie ihre Tochter auf.
Melanie grinste nur und nahm einen Schluck vom Kaffee. Dann fiel ihr Blick auf die zweite Zeitung auf dem Küchentisch und sie riss erstaunt die Augen auf. Mit dem Löffel deutete sie auf die Schlagzeile. „Sie wurde gesichtet?“
Ihre Eltern nickten, sie wussten sofort, von was sie sprach. Die Schlagzeile der Zeitung lautete:
Die dunkle Retterin offenbart ihr Gesicht.
„Ja, ein Opfer konnte im Schein der Straßenlaterne ihr Gesicht erkennen. Anscheinend handelt es sich um eine Asiatin.“ Melanies Vater reichte ihr die Zeitung, in der ein gestelltes Foto zu sehen war. Das Mädchen, das mit entschlossenem Blick in die Ferne starrte, hatte eine braune Hautfarbe, dunkle Augen und schwarzes Haar.
„Seltsam“, bemerkte Melanie. „Bisher hat sie ihr Gesicht immer verdeckt gehalten.“
Melanies Mutter kaute auf ihrer Unterlippe herum, eine Eigenschaft, die Melanie von ihr geerbt hatte. „Ich denke, man will auch gar nicht wissen, wer sie ist. Denn wenn man wüsste, wer sie ist, müsste man sie verhaften, doch keiner hier will das.“
„Aber man weiß doch nicht, wer sie ist, oder? Ich meine, es gibt viele Asiaten hier“, warf Melanie verwirrt ein.
Ihr Vater nickte. „Das stimmt. Und ich denke auch nicht, dass man mehr herausfindet. Denn bestimmt wird sie jetzt vorsichtiger sein.“ Melanie nickte nachdenklich.
„Was bringt ihr darüber in eurer Zeitung?“
Ihre Eltern sahen sich an. „Das wissen wir noch nicht.“
Melanie nippte an ihrem Kaffee und schaute verständnisvoll nickend auf die Uhr. „Ich muss bald gehen.“
„Okay, dein Vater und ich gehen auch bald los. Wir sehen uns lange nicht mehr, Melanie.“ Die Stimme ihrer Mutter war geknickt in Anbetracht des Abschieds von ihrer Tochter.
Melanie schaute ihre Eltern schwermütig an und stellte die Tasse beiseite, um die beiden in den Arm zu nehmen. Sie drückte sie fest an sich und schloss kurz die Augen. „Ich werde euch vermissen. Und ruft mich unbedingt an! Ich möchte wissen, wie die Pferde aussehen.“
Ihre Eltern lachten. „Ganz bestimmt. Wir lieben dich, mein Schatz.“ Ihre Mutter drückte ihr einen Kuss aufs Haar.
„Und sei vorsichtig, ja?“, bat ihr Vater. Dann grinste er frech. „Du hast dich schon wie eine Mutter angehört!“
Melanie lachte und boxte ihm scherzhaft in die Rippen. „Ach was!“, protestierte sie.
Die Zeit, bis Melanie in die Schule musste, ging viel zu schnell vorbei. Sie küsste ihre Eltern noch ein letztes Mal zum Abschied, wünschte ihnen viel Erfolg und ging schweren Herzens in die Schule.
Melanie machte sich so klein wie möglich. In ihrer Schule wurden alle, die pinke Augen hatten, heruntergemacht. Und da das genau genommen nur Melanie betraf, war sie das Opfer.
Sie saß auf ihrem gewohnten Platz ganz hinten im Klassenzimmer und starrte die schwarze Tafel am anderen Ende des Raumes an. Die Wände des Klassenzimmers waren weiß gestrichen, die Tische reihenweise angeordnet und an der Wand hing außer dem Stundenplan kein einziges Bild, nicht mal Plakate der Schüler wurden aufgehängt. Alles in allem war es hier genauso unfreundlich gestaltet, wie die Stimmung war, und von Wohlfühlen war keine Rede. Gerade beschrieb eine Tussi vor Melanie ihrer Kollegin eine nicht vorhandene weitere Freundin. Ganz klar, um Melanie zu ärgern.
„Sie hatte blonde Haare und pinke ... äh ... ich meine natürlich blaue Augen.“ Ihre Freundin lachte dröhnend und unmädchenhaft über den grottenschlechten Witz.
„Weißt du, ich würde mich nicht blicken lassen!“, meinte sie.
Melanie, die ganz darauf konzentriert war, den beiden nicht an die Gurgel zu springen, weil sie sonst Ärger bekommen hätte, bemerkte nicht, wie die Freundin der beiden Miss-Wir-sind-so-lustig-Tussen mit einem Schwamm hinter sie getreten war. Als der erste Tropfen Seifenwasser auf ihre Haare fiel, fuhr sie erschrocken zusammen, sprang über ihre Stuhllehne und packte das Mädchen am Hals. Dieses schaute sie entsetzt an und ließ den Schwamm fallen, der ein paar Meter weiter links landete. Eine Sekunde später ließ Melanie sie erschrocken los und ging schwer atmend ein paar Schritte zurück. Sie hatte ganz reflexartig gehandelt, doch sie wäre auch zu mehr in der Lage gewesen. Es war ihr aber noch nie passiert, dass sie derart die Fassung verloren und ein Mädchen angegriffen hatte; wahrscheinlich reichte es ihr an ihrem letzten Schultag einfach. Aber sich zu entschuldigen, war eine schlechte Idee, deshalb kniff sie verächtlich ihre großen Augen zusammen und sah die drei Tussen an, die sie aus offenen Mündern anstarrten.
„Ich kannte mal jemanden, der hatte braune Augen.“ Sie sah das Mädchen, das vorhin über die blauen Augen erzählt hatte, nachdrücklich an. „Aber seltsamerweise wechselte das ziemlich schnell zu Blau, als er mich ins Wasser werfen wollte.“ Sie schnaubte. „Also lasst mich gefälligst in Ruhe!“ Sie setzte sich an ihren Platz, wohl wissend, dass ihr Spruch genauso schlecht war wie der der anderen. Natürlich hielt das niemanden davon ab, weiter über sie zu lästern.
Ein Junge vor ihr drehte sich um. „Ach ja, ist er über seine Füße gestolpert?“
Das ist ja fast schon humorvoll!
Sie antwortete nicht.
„Weshalb trägst du denn diese bescheuerten Kontaktlinsen?“
Melanie zwang sich, nicht auch noch ihm die Fresse zu polieren. „Das sind keine Kontaktlinsen“, sagte sie möglichst gelassen. Egal, welche Antwort sie gab, es war immer die falsche.
Der Junge hob die Brauen. „Ach ja, du bist ja eine Missgeburt.“ Lachend drehte er sich wieder nach vorne.
Doch nicht humorvoll.
Zum Glück kam in diesem Moment die Biologie- und Klassenlehrerin ins Zimmer, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, zu spät zu kommen. Sie blickte ihre Schüler an, die allesamt in einer Du-hast-mirgar-nichts-zu-sagen-Haltung in ihren Stühlen saßen. Melanie schaute sich rasch im Zimmer um und stellte verwundert fest, dass tatsächlich alle eine eigene Taktik entwickelt hatten, in der Schule nicht aufzufallen und desinteressiert auf den Stühlen zu fläzen. Wenigstens etwas lernt man in der Schule.
„Gerade hinsetzen!“, herrschte die Lehrerin ihre Schüler an.
Von allen Lehrern mochte Melanie diese am liebsten. Nicht, weil sie so wahnsinnig sympathisch war, sondern weil die meisten Schüler Angst vor ihr hatten. Dann ließen ihre Mitschüler sie wenigstens eine Weile lang in Ruhe.
„Heute ist euer letzter Tag. Letzte Woche habe ich eine Umfrage gemacht, was ihr heute gerne machen würdet. Da es gewisse Einschränkungen gibt, habe ich Folgendes entschieden.“ Sie schob sich die Brille höher auf die Nase. „Nachdem ihr mir die Hefte zurückgegeben habt, werden wir über ein aktuelles Thema sprechen.“
Die Klasse stieß entsetzte Laute aus und Melanie runzelte die Stirn. Momentan war nichts in den Nachrichten präsent, über das man groß reden konnte, und das Wetter war mit aktuell bestimmt nicht gemeint. Sie musste sich wohl überraschen lassen.
Doch die Lehrerin strich trotz der abwehrenden Reaktionen bloß ihre altmodische Bluse glatt und ging in der Klasse herum, um die Hefte einzusammeln.
Als Melanie ihres abgab, flüsterte