Dombey und Sohn. Charles Dickens
Neuntes Kapitel. IN WELCHEM DEN HÖLZERNEN MIDSHIPMAN ANGELEGENHEITEN TREFFEN.
Der Hang der Romantik und Liebe zum Wunderbaren hatte sich in ziemlich starker Menge in der Natur des jungen Walter angesammelt. Dieser Hang war unter der Obhut des alten Solomon Gills durch die Wasser einer ernsten praktischen Erfahrung nicht sonderlich geschwächt worden und veranlaßte, daß er für Florences Abenteuer mit der guten Mrs. Brown ein ungewöhnliches, begeistertes Interesse hegte. Er bewahrte es treulich in seinem Gedächtnis, namentlich all das, woran er selbst mitgewirkt hatte, und trug es so mit sich herum, bis es das verderbte, eigensinnige Kind seiner Phantasie wurde, das ganz nach eigener Laune handelte.
Die Erinnerung an diese Vorfälle und seine eigene Beteiligung dabei wurde vielleicht noch bezaubernder durch die wöchentlichen Träume des alten Sol und des Kapitän Cuttle, wenn sie an Sonntagen beisammen saßen. Kaum verging einer von diesen Anlässen, ohne daß der eine oder der andere dieser würdigen Kumpane geheimnisvolle Anspielungen auf Richard Whittington machte. Der Kapitän war sogar so weit gegangen, eine Ballade von beträchtlichem Altertum zu kaufen, die lange unter andern poetischen Seemannsergießungen an einer Mauer der Trödlerstraße geflattert hatte. Die dichterische Leistung behandelte die Werbung und die Hochzeit eines hoffnungsvollen jungen Köhlers mit einer gewissen »lieblichen Peg«, einer mit allen Vorzügen ausgestatteten Tochter des Meisters und Miteigentümers eines Newcastler Kohlenschiffes. In dieser aufregenden Geschichte entdeckte Kapitän Cuttle eine tiefe geheime Beziehung zu dem Fall zwischen Walter und Florence. Sie begeisterte ihn dermaßen, daß er bei sehr festlichen Anlässen, z. B. an Geburts- und andern nicht sonntäglichen Feiertagen in dem kleinen Hinterstübchen das ganze Lied herunterplärrte und bei dem Wort »Pe–e–eg«, mit dem jeder Vers zu Ehren der Helden des Stücke« schloß, einen ganz erstaunlichen Triller anbrachte.
Aber ein offener, freimütiger Junge ist nicht gerade in der Lage, die Natur der eigenen Gefühle zu analysieren, wie tief sie auch in ihm verwurzelt sein mögen: und Walter wäre es schwer geworden, über diesen Punkt zu einer Entscheidung zu kommen. Er hatte eine große Zuneigung zu der Stelle, wo er Florence begegnet war, und der Straße, durch die er sie, obschon sie an sich durchaus nicht bezaubernd genannt werden konnte, nach Hause geführt hatte. Die Schuhe, die ihr unterwegs so oft abgeglitten waren, bewahrte er in seinem eigenen Stübchen auf, und wenn er abends in dem kleinen Hinterzimmer saß, entwarf er sich von der guten Mrs. Brown eine ganze Galerie von eingebildeten Porträts. Möglich, daß er auch nach jenen denkwürdigen Anlässen ein bißchen sorgfältiger in seinem Anzug wurde. Auch ist jedenfalls soviel gewiß, daß er während seiner freien Zeit gerne nach jenem Stadtteil spazierte, wo Mr. Dombeys Haus lag, in der unbestimmten Hoffnung, er könnte vielleicht der kleinen Florence auf der Straße begegnen. Aber bei alledem war sein Sinn so knabenhaft unschuldig, wie er es nur sein konnte. Florence war sehr hübsch, und es ist angenehm, ein hübsches Gesicht zu bewundern. Florence war zart und wehrlos. Was für ein stolzer Gedanke, daß er imstande gewesen, ihr seinen Schutz und seinen Beistand zu verleihen. Florence war das dankbarste kleine Geschöpf in der Welt: und es erfüllte ihn mit Entzücken, zu sehen, wie ihr dieses schöne Gefühl aus dem Antlitz leuchtete. Florence war vernachlässigt und wurde mit Kälte behandelt. Seine Brust quoll über von jugendlicher Teilnahme für das verachtete Kind in seiner öden stattlichen Heimat.
So kam es, daß Walter vielleicht ein halb dutzendmal im Lauf des Jahres auf der Straße vor Florence den Hut ziehen konnte, und sie pflegte dann haltzumachen, um ihm ihre Hand zu reichen. Mrs. Wickham war daran so gewöhnt, daß sie nicht darauf achtete, weil sie von der Geschichte ihrer Bekanntschaft unterrichtet war. Miß Nipper dagegen hatte auf derartige Anlässe ein schärferes Augenmerk. Ihr empfindsames Herz war im geheimen durch Walters gutes Aussehen gewonnen, und sie neigte sich zu dem Glauben, daß ihre Gefühle erwidert würden.
Die Entfernung von Florence diente nicht dazu, daß Walter die Bekanntschaft mit ihr vergaß oder sie aus dem Gesicht verlor. Im Gegenteil, er hütete die Erinnerung daran mehr denn je in seinem Innern. Was den abenteuerlichen Anfang und alle jene kleinen Umstände betraf, die ihr einen bestimmten Charakter und Hochgenuß verliehen, so nahm er die mehr als ein angenehmes Märchen, das seine Phantasie erquickte und nicht aus ihr verloren gehen durfte, weniger als den Teil einer Tatsache, an der er beteiligt war. In seiner Einbildungskraft diente sie wohl dazu, Florence zu heben, nicht aber ihn selbst. Bisweilen dachte er (und er beschleunigte dann seine Schritte), was es nicht Großes gewesen wäre, wenn er sich am Tag nach jener ersten Begrüßung auf ein Schiff begeben hätte, um auf der See Wunder zu tun und nach langer Abwesenheit als ein Admiral strahlend in allen Farben des Delphins oder wenigstens als ein Postkapitän mit Epauletten von blendendem Glanze wieder zurückzukommen. Dann hätte er Florence, die zu einer schönen Jungfrau herangewachsen war, heiraten und sie – Mr. Dombey, seinem Schlips und seiner Uhrkette zum Trotz – triumphierend irgendwohin nach der Riviera entführen können. Aber dieser Phantasieflug war nicht imstande, die Messingplatte von Dombey und Sohns Geschäftslokalen in ein Täfelchen goldener Hoffnung umzuwandeln oder einen helleren Glanz durch dessen erblindete Hochlichtfenster hereinzusenden, und wenn die beiden Alten im Hinterstübchen von Richard Whittington und Chefstöchtern sprachen, so fühlte Walter wohl, daß er über die wahre Stellung von Dombey und Sohn weit besser unterrichtet war als sie.
So kam es denn, daß er fortfuhr, seine täglichen Pflichten mit heiterem, fröhlichem, unermüdetem Geist zu erfüllen. Zwar durchschaute er wohl den hitzigen Charakter von Onkel Sol und Kapitän Cuttle; aber dennoch unterhielt er tausend unbestimmte und träumerische Vorstellungen von eigener Schöpfung, gegen die die ihrigen nur alltägliche Wahrscheinlichkeiten waren. Dies also war seine Lage in der Pipchin-Periode, in der er zwar etwas – aber nicht um viel – älter aussah, als vordem. Er war noch derselbe leichtfüßige, leichtherzige Junge, wie zur Zeit, als er an der Spitze von Onkel Sol und der eingebildeten Enterer in das Wohnstübchen stürmte und dem Onkel bei dem Heraufbringen des Madeira leuchtete.
»Onkel Sol«, sagte Walter, »ich glaube, Ihr seid nicht ganz wohl. Ihr habt kein Frühstück genommen. Wenn es so bei Euch fortgeht, werde ich einen Arzt holen.«
»Er kann mir doch nicht geben, was ich brauche, mein Junge«, versetzte Onkel Sol. »Jedenfalls müßte er eine gute Praxis haben, wenn er es könnte, und wenn dies der Fall ist, tut er es nicht.«
»Was meint Ihr damit, Onkel? Kunden?«
»Jawohl«, entgegnete Solomon mit einem Seufzer. »Kunden würden gut angelegt sein.«
»Zum Kuckuck, Onkel!« sagte Walter, indem er seine Frühstücktasse klappernd niedersetzte und mit der Hand auf den Tisch schlug, »wenn ich auf der Straße draußen den ganzen Tag lang alle Minuten Scharen von Leuten am Laden hin und her gehen sehe, so fühle ich mich halb versucht, hinauszueilen, den nächsten besten am Kragen zu packen, hereinzubringen und ihn zu zwingen, daß er für fünfzig Pfund in bar – Instrumente kaufe. Was guckt Ihr zur Türe herein?« fuhr Walter gegen einen alten Herrn mit gepudertem Kopf fort, der ihn natürlich nicht hören konnte, wie er so dastand und interessiert ein Schiffsteleskop musterte. »Davon haben wir nichts, und ich könnt' das selber besorgen. Kommt herein und kauft es!«
Mittlerweile hatte der alte Herr seine Neugierde befriedigt und ging ruhig weiter.
»Da geht er!« sagte Walter. »So machen es alle. Aber, Onkel – he, Onkel Sol« – denn der alte Mann war in Gedanken verloren und hatte auf die erste Anrede nicht geantwortet. »Ihr müßt nicht kleinmütig werden. Seid nicht niedergeschlagen, Onkel. Wenn einmal Aufträge kommen, so werden sie in solcher Menge eintreffen, daß Ihr nicht imstande sein werdet, sie zu besorgen.«
»Übers Sorgen bin ich hinaus, wann sie auch kommen mögen, mein Junge«, entgegnete Solomon Gills. »Man wird nicht wieder in diesen Laden kommen, bis ich nicht mehr drinnen bin.«
»Onkel, aber! – Das dürft Ihr nicht sagen!« drängte Walter. »Nein, das dürft Ihr nicht!«
Der alte Sol bemühte sich, eine heiterere Miene anzunehmen, und lächelte, so gut es gehen wollte, über den Tisch hinüber dem Knaben zu.
»In der Sache liegt durchaus nichts, als der gewöhnliche Gang – ist es nicht so, Onkel?« entgegnete