Dombey und Sohn. Charles Dickens
– einzig nur der Schwester.
Hätte sich Mr. Dombey in dem Übermut seines Reichtums je einen grimmigen und unversöhnlichen Feind gemacht, so wäre sicherlich auch diesem für alles geschehene Unrecht reichliche Schadloshaltung zugegangen in dem Schmerz, der in jenem Augenblicke das stolze Herz durchdrang. Mr. Dombey beugte sich über seinen Sohn und küßte ihn. Wenn sein Gesicht dabei trüber wurde durch etwas, das ihm für einen Moment das kleine Antlitz undeutlich machte, so sah vielleicht für diese kurze Zeit sein geistiges Auge um so klarer.
»Ich besuche dich bald wieder, Paul. Du weißt, an Sonnabenden und Sonntagen hast du Ferien.«
»Ja, Papa«, entgegnete Paul, nach seiner Schwester hinsehend. »An Sonnabenden und an Sonntagen.«
»Und du wirst dir Mühe geben, hier viel zu lernen und ein gescheiter Mann zu werden«, sagte Mr. Dombey. »Nicht wahr, das willst du?«
»Ich will mir Mühe geben«, versetzte das Kind in mattem Ton.
»Und du wirst jetzt bald groß sein!« sagte Mr. Dombey.
»O! sehr bald!« entgegnete das Kind.
Wieder zuckte der alte, alte Blick rasch über seine Züge, wie ein fremdes Licht. Er traf auf Mrs. Pipchin und erlosch daselbst in deren schwarzem Anzug. Die treffliche Werwölfin trat vor, um Abschied zu nehmen und Florence fortzuführen – ein Genuß, nach dem sie längst gedürstet hatte. Ihre Bewegung weckte Mr. Dombey auf, dessen Augen an Paul hafteten. Nachdem er dem Knaben den Kopf gestreichelt und abermals dessen kleine Hand gedrückt hatte, verabschiedete er sich von Dr. Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber mit seiner gewohnten höflichen Kälte und verließ das Studierzimmer.
Ungeachtet seiner Bitte, man möchte sich ja nicht stören lassen, drängten sich doch Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber vor, um den reichen Gast nach der Halle zu geleiten, und so kam es denn, daß Mrs. Pipchin zwischen Miß Blimber und den Doktor geriet, und von demselben aus dem Studierzimmer hinausgedrängt wurde, ehe sie Florence zu packen imstande war. Diesem glücklichen Zufall verdankte Paul später die teure Erinnerung, daß Florence auf ihn zulief, um ihren Arm um seinen Nacken zu schlingen, und daß ihr Gesicht das letzte war, dessen er auf der Schwelle ansichtig wurde. Dort wandte sie sich noch einmal mit einem Lächeln der Ermutigung gegen ihn hin – mit einem Lächeln, das durch den Tau der Tränen nur um so heller glänzte.
Sein kindliches Herz wogte, als dieser Anblick vor seinen Augen entschwand, und alles im Zimmer umher, die Globusse, die Bücher, der blinde Homer und Minerva schienen in dem Zimmer zu verschwimmen. Dann aber machten sie auf einmal plötzlich halt, und er hörte die laute Uhr in der Halle noch immer die ernste Frage stellen: ›was, macht, mein, klei, ner, Freund: was, macht, mein, klei, ner, Freund?‹
Mit gefalteten Händen saß er auf seinem Tische und hörte stumm zu. Er hätte antworten mögen: ›ich bin müde, müde, sehr einsam und sehr traurig!‹ Und da saß er nun mit dem schmerzlichen Weh in seinem jungen Herzen – außen alles so kalt, so kahl und fremd – als habe er ein unmöbliertes Leben gemietet und als wolle der Tapezierer um keinen Preis kommen.
Zwölftes Kapitel. PAULS ERZIEHUNG.
Nach Ablauf von einigen Minuten, die dem kleinen auf dem Tisch sitzenden Paul wie eine Ewigkeit vorkamen, kehrte Doktor Blimber wieder zurück. Wie stattlich war der Gang des Doktors – wie so ganz darauf berechnet, das jugendliche Gemüt mit feierlichen Empfindungen zu erfüllen. Es war eine Art Marsch; aber wenn der Doktor seinen rechten Fuß ausstreckte, so drehte er ihn mit einer halbzirkelförmigen Schwenkung gravitätisch nach links um seine Achse, und wenn der linke Fuß an die Reihe kam, so wurde er in derselben Weise nach rechts geschwenkt. Auch schien er bei jedem Schritt, den er tat, umherzuschauen, als wollte er sagen:
»Kann wohl jemand die Güte haben, mir, in was immer für einer Richtung, einen Gegenstand anzudeuten, über den ich nicht unterrichtet wäre? – Ich denke, es wird schwer fallen.«
Mit dem Doktor kamen auch Mrs. Blimber und Miß Blimber zurück. Der Doktor hob nun seinen neuen Zögling vom Tisch herunter und übergab ihn seiner Tochter.
»Cornelia«, sagte er, »Dombey wird anfangs deiner Sorge überlassen bleiben. Nimm ihn fort, Cornelia, nimm ihn fort.«
Miß Blimber nahm ihren Mündel aus des Doktors Händen in Empfang, und Paul schlug die Augen nieder, weil er fühlte, daß ihn die Brille musterte.
»Wie alt bist du, Dombey?« fragte Miß Blimber.
»Sechs«, antwortete Paul mit einem verstohlenen Blick auf die Dame, und in nicht geringer Verwunderung, warum ihre Haare nicht lang wuchsen, wie die seiner Schwester, und warum sie so ganz wie ein Knabe aussah.
»Was hast du schon aus der lateinischen Grammatik gelernt, Dombey?« fragte Miß Blimber.
»Nichts«, antwortete Paul.
Da er übrigens fühlte, diese Erwiderung sei ein herber Schlag für Miß Blimbers Zartgefühl, so schaute er zu den drei Gesichtern auf, die zu ihm herniedersahen, und fuhr fort:
»Ich bin nicht gesund gewesen. Ich war ein schwächliches Kind und konnte nicht in der lateinischen Grammatik lernen, weil ich alle Tage mit dem alten Glubb ausfuhr. Es wäre mir lieb, wenn Sie so gut sein wollten, dem alten Glubb zu sagen, er solle auch herkommen und mich besuchen.«
»Welch ein schrecklich gemeiner Name!« sagte Mrs. Blimber. »Unklassisch in höchstem Grade! Wer ist dieses Ungeheuer, Kind?«
»Welches Ungeheuer?« fragte Paul.
»Der Glubb«, entgegnete Mrs. Blimber mit großem Unbehagen.
»Er ist so wenig ein Ungeheuer wie Sie«, erwiderte Paul.
»Wie?« rief der Doktor mit schrecklicher Stimme. »Was sagst du da? Aha! was soll das heißen?«
Paul erschrak heftig, ergriff aber doch die Partei des abwesenden Glubb, obschon es nur mit Zittern geschah.
»Er ist ein sehr lieber alter Mann, Ma'am«, sagte er, »und pflegte meine Kutsche zu ziehen. Er weiß alles von dem tiefen Meer, von den Fischen, die darin sind, und von den großen Ungeheuern, die da kommen und sich auf Felsen sonnen, wenn man sie aber aufschreckt, wieder ins Wasser stürzen und so blasen und plätschern, daß man sie auf weithin hören kann. Es gibt auch einige Tiere«, fuhr Paul fort, der über seinen Gegenstand warm wurde – »weiß nicht, wie viele Ellen lang, habe ihre Namen vergessen; aber Florence weiß es wohl – diese tun, wie wenn ein Mensch in der Not ist, und wenn Leute aus Mitleid sich ihnen nähern, so öffnen sie ihren großen Rachen und packen sie an. Man braucht aber dann nichts zu tun«, fuhr Paul fort, indem er seine Gelehrsamkeit keck sogar vor dem Doktor glänzen ließ – »als in anderer Richtung wegzulaufen: denn weil sie so lang sind und sich nicht biegen können, drehen sie sich nur langsam um, und man kann ihnen gut entgehen. Zwar weiß der alte Glubb nicht, warum das Meer meine Gedanken auf meine Mutter richtet, die tot ist, und auch nicht, was die See sagt und in einem fort sagt – aber dennoch weiß er viel von dem großen Wasser. Und es wäre mir lieb«, schloß endlich Paul mit kleinlauter Miene, als er wie ein verirrtes Wesen auf die drei fremden Gesichter hinsah, »wenn Ihr den alten Glubb herkommen ließet, damit er mich besuche, denn ich kenne ihn sehr gut, und er kennt mich.«
»Ha!« rief der Doktor, seinen Kopf schüttelnd – »aber das Studieren wird viel ausrichten.«
Mrs. Blimber gab in einer Art Schauderanfall ihre Ansicht dahin ab, daß Paul ein unerklärliches Kind sei, und sah ihn – wenn man den Unterschied der Züge in Rechnung brachte – fast so an, wie es Mrs. Pipchin zu tun pflegte.
»Mach' einen Gang mit ihm durchs Haus, Cornelia«, sagte der Doktor, »damit er mit seiner neuen Sphäre vertraut werde. Geh mit dieser jungen Dame, Dombey.«
Dombey gehorchte und gab der geheimnisvollen Cornelia die Hand, sah sie aber unterwegs stets mit schüchterner Neugierde von der Seite an. Wegen der glänzenden Gläser ihrer Brille hatte sie nämlich ein so mysteriöses Aussehen, daß er nie wußte, wohin sie schaute: ja er konnte nicht einmal