Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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Schwachen, der Bedürftigen und Unwissenden sind die Männer, die Eltern, die Herrschaften, die Starken, Reichen und Gelehrten Schuld.«

      Ferner: »Die Unwissenden belehret, so gut Ihr es vermöget; die Gesellschaft ist zu tadeln, daß sie nicht den öffentlichen Unterricht unentgeltlich ertheilen läßt; sie ist verantwortlich für die Finsterniß, der sie die Entstehung giebt. Ist eine Seele umnachtet, so schleicht sich die Sünde in sie hinein. Nicht derjenige ist der Schuldige, der die Sünde begeht, sondern der die Nacht geschaffen hat.«

      Man sieht, er hatte eine absonderliche und eigne Art die Dinge zu beurtheilen. Ich habe ihn stark in Verdacht, daß er diese Gedanken dem Evangelium entnommen hatte.

      Eines Tages war er gerade zugegen, als in einer Gesellschaft von einem Kriminalprozeß gesprochen wurde, der damals die Gerichte beschäftigte. Ein armer Mensch hatte sich aus Liebe zu einer Frau und zu dem Kinde, das sie ihm geboren, der Falschmünzerei schuldig gemacht, da er sie auf andre Weise vor dem Hungertode nicht zu bewahren wußte. Dieses Verbrechen wurde damals noch in Frankreich mit der Todesstrafe geahndet. Die Frau war bei dem ersten Versuch ein von dem Manne fabrizirtes Geldstück in Umlauf zu setzen, verhaftet worden, aber Beweise um sie einer Schuld zu überführen, hatte man nicht. Sie allein konnte gegen ihren Liebhaber aussagen und durch ein Geständniß seine Verurtheilung ermöglichen. Sie leugnete aber aufs hartnäckigste. Da hatte der Staatsanwalt einen gescheidten Einfall. Er legte der Unglücklichen geschickt ausgewählte Bruchstücke aus Briefen des Mannes vor und brachte sie auf diese Weise zu dem Glauben, sie habe eine Nebenbuhlerin, mit der er sie hintergehe. Da klagte sie, getrieben von sinnloser Eifersucht, ihren Geliebten an, und lieferte die nöthigen Beweise. Nun war der Mann verloren und nächster Tage sollte ihm, samt seiner Mitschuldigen in Aix der Prozeß gemacht werden. Dieser Vorfall also bildete den Gegenstand der Unterhaltung, und Alle bezeigten das höchste Entzücken über die Schlauheit des Staatsanwalts. Dadurch, daß er die Eifersucht ins Spiel gezogen, auf die Rachsucht der gekränkten Eitelkeit spekulirt, habe er der Wahrheit und Gerechtigkeit zum Siege verholfen. Allen diesen Lobeshebungen hörte der Bischof bis zu Ende schweigend zu. Dann fragte er:

      »Vor welches Gericht werden die Beiden gestellt werden?«

      »Vor die Assisen.«

      »Und der Staatsanwalt?«

      Wir müssen hier noch einen andern tragischen Vorfall erwähnen, der sich in Digne zutrug. Es wurde ein Mann wegen Mordes zum Tode verurtheilt, ein Unglücklicher, der nicht gerade ein gebildeter Mann, aber auch nicht ganz unwissend war, und der sich als Akrobat und öffentlicher Schreiber sein Brod auf den Jahrmärkten verdiente. Der Prozeß erregte große Sensation. An dem Tage vor der Hinrichtung wurde der Gefängnißgeistliche krank, und da man einen Priester brauchte, der den armen Sünder auf seinem letzten Gange begleiten sollte, so schickte man nach dem Stadtgeistlichen. Dieser aber weigerte sich, wie es heißt, mit rücksichtsloser Deutlichkeit: »Das geht mich nichts an«, ließ er sich vernehmen, »ich werde es bleiben lassen, mich mit dem Hanswurst zu befassen. Außerdem bin ich selber krank, und es ist Überhaupt nicht mein Beruf.« Seine Aeußerungen wurden dem Bischof hinterbracht, und dieser sagte: »Der Herr Pfarrer hat Recht. Es ist nicht sein Beruf. Aber es ist der meinige.«

      Er begab sich auch unverzüglich in das Gefängniß, ließ sich in die Zelle des »Hanswurstes« führen, redete ihn mit seinem Namen an, ergriff seine Hand und sprach zu ihm. Den ganzen Tag blieb er bei ihm, versagte sich Essen, Trinken und Schlaf, betete zu Gott für die Seele des Verurtheilten und ermahnte den Unglücklichen seines Seelenheils zu gedenken. Er predigte ihm die besten Wahrheiten, nämlich die einfachsten. Er sprach mit ihm wie ein Vater, ein Bruder, ein Freund; und kehrte den Bischof nur hervor, um ihn zu segnen. Er unterwies ihn, indem er ihn beruhigte und tröstete. Der Mann sah seinem letzten Augenblick mit Verzweiflung entgegen. Der Tod war ihm ein Abgrund, an dessen Rand er schaudernd zurückbebte. Er war nicht so roh, daß er völlig stumpf hätte sein können. Seine Verurtheilung hatte ihn bis in sein Innerstes erschüttert und gewissermaßen jene Schranke hie und da niedergerissen, die das Geheimniß der Dinge unsern Blicken entzieht, und die wir das Leben nennen. Durch die Breschen blickte er ohne Unterlaß über diese Welt hinaus und sah nur Finsterniß. Der Bischof aber zeigte ihm ein Licht.

      Am andern Tag als der arme Sünde geholt wurde, war der Bischof gegenwärtig. Er ging neben ihm und zeigte sich den Augen der Menge im violetten Mantel, mit dem Bischofskreuze am Halse neben einem mit Stricken gefesselten Verbrecher.

      Er stieg mit ihm auf den Karren, stieg mit ihm auf das Schaffot. Der Delinquent, der Tags zuvor niedergedrückt und verzweifelt gewesen, sah gefaßt aus. Er hatte das Gefühl, daß seine Seele Erlösung gefunden und bald mit ihrem Gott vereinigt sein werde. Der Bischof umarmte ihn und sagte in dem Augenblick, als das Fallmesser der Guillotine herabstürzen sollte: »Wen Menschen töten, den läßt Gott wiederauferstehn; wen seine Brüder verjagen, der findet den Vater. Bete, glaube, gehe in das ewigen Leben ein: der Vater ist da, dich aufzunehmen.« Als er vom Schaffot wieder herunterstieg, lag in seinem Blick ein Etwas, vor dem die Menge ehrfurchtsvoll zurückwich. Man wußte nicht, was man mehr bewundern solle, die Blässe oder die Heiterkeit seines Antlitzes. In der bescheidnen Wohnung angelangt, die er scherzend seinen Palast nannte, sagte er zu seiner Schwester: »Ich habe ein feierliches Hochamt gehalten.«

      Da das Erhabenste oft am wenigsten Verständniß findet, so legten manche Leute das Verhalten des Bischofs als Affektation aus. Freilich nur Leute aus den bessern Ständen. Das Volk, das Werke der rechten Frömmigkeit nicht mißdeutet, war gerührt und bewunderte seinen Bischof.

      Was den Bischof anbetrifft, so hatte ihn der Anblick aufs heftigste erschüttert, und es währte lange, ehe er diesen Eindruck verwand.

      Das Schaffot weckt in der That, wenn man es vor sich aufgerichtet sieht, in der Phantasie unheimliche Gedanken und Bilder. Man kann gleichgültig denken über die Todesstrafe, sich jedes Urtheils enthalten, Ja und Nein sagen, so lange man die Guillotine nicht mit Augen gesehen hat; ihr Anblick aber bringt eine mächtige Erschütterung in unserm geistigen Innern hervor und zwingt zur Parteinahme. Die Einen bewundern sie dann, wie de Maistre, die Andern verfluchen sie, wie Beccaria. Die Guillotine ist das körperlich gewordene Gesetz, ihr Name ist Rache; sie ist nicht neutral und gestattet nicht, daß man neutral bleibt. Nichts Geheimnisvolleres als der Schauer, der uns bei ihrem Anblick durchzuckt! Alle socialen Probleme richten um das Fallmesser ihre Fragezeichen auf. Die Guillotine ist eine Vision. Sie ist kein Gerüst, keine Maschine, kein Mechanismus aus Holz, Eisen, Stricken! Sie gleicht einem beseelten, der Thätigkeit fähigen Wesen. Es ist, als sehe, als höre diese Maschine, als habe sie einen Verstand, als seien dieses Holz, dieses Eisen, diese Stricke mit Willen begabt. Die durch ihre Gegenwart geängstigte Phantasie zeigt sie uns als einen Unhold, der mit Bewußtsein handelt. Die Guillotine betheiligt sich an der Tötung, die der Henker vollzieht; sie verschlingt, frißt Menschenfleisch und säuft Blut. Die Guillotine ist ein von dem Richter und dem Zimmermann fabrizirtes Ungethüm, ein Gespenst, das sich fortwährend aus dem Tode ein scheußliches Leben schafft.

      Deshalb war auch bei dem Bischof der Eindruck ein fürchterlicher und nachhaltiger; am Tage nach der Hinrichtung und viele Tage später sah er niedergedrückt aus. Die Seelenheiterkeit, die noch auf dem Schaffot bis zu einer gewaltsamen Höhe angewachsen war, hatte ihn verlassen; ihn peinigte das Phantom der socialen Gerechtigkeit. Er, der sonst auf seine Handlungen mit ungetrübter Seelenruhe zurückzublicken pflegte, schien sich dies Mal Vorwürfe zu machen. Zeitweise stellte er halblaut traurige Betrachtungen an. Einen solchen Monolog belauschte eines Abends seine Schwester und behielt ihn in ihrem Gedächtniß: »Nein, so schauerlich hatte ich es mir nicht vorgestellt. Es ist Unrecht den Blick so fest auf das göttliche Gesetz zu heften, daß man die menschlichen Gesetze darüber vergißt. Den Tod zu geben hat Gott allein das Recht: Warum befassen sich also die Menschen damit, da ihnen der Tod doch etwas Unbekanntes ist?«

      Mit der Zeit wurden diese Eindrücke schwächer und erloschen vielleicht ganz. Nur fiel es auf, daß der Bischof es seitdem vermied über den Richtplatz zu gehen.

      Zu jeder Stunde durfte man Myriel zu Kranken und Sterbenden rufen. Er war sich klar darüber, daß einem solchen Rufe zu folgen die dringendste und wichtigste Obliegenheit seines Amtes war. Zu Wittwen und Waisen ging er von selber: Sie brauchten ihn nicht erst zu sich zu bitten. Er vermochte es Stunden lang


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