Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


Скачать книгу
des Richters ist; aber eine Verurtheilung zu lebenslänglicher Verbannung hätte nicht schaden können. Ein Beispiel zu statuiren wäre doch nöthig gewesen! U. s. w. Dann war der Mensch ja auch ein Atheist, wie die revolutionären Kanaillen alle. – Gänsegeklatsch über einen Geier!

      War denn G. auch ein Geier? Ja, der Vergleich stimmte, wenn man ihn nach seiner Menschenscheu beurtheilte. Da er nicht für den Tod des Königs gestimmt hatte, so war er von den Verbannungsdekreten nicht getroffen worden und hatte in Frankreich bleiben dürfen.

      Er wohnte drei Viertelstunden von der Stadt, weitab von jedem Dorfe, weitab von jedem Wege, in einem versteckten Winkel eines öden Thales. Er hatte dort, erzählte man, eine Art Feld, ein Loch, eine Hütte. Weit und breit war dort kein Haus zu sehen, nie kam Jemand dort vorüber. Seit er in der Schlucht seine Wohnung aufgeschlagen, war Gras über den Pfad, der dahin führte, gewachsen. Man sprach von dem Ort mit derselben Abscheu, als wenn da das Haus des Henkers gestanden hätte.

      Der Bischof indessen dachte an das Conventsmitglied und richtete bisweilen seinen Blick nach der Baumgruppe, die fern am Horizont den Wohnort des Einsiedlers bezeichnete. »Dort befindet sich eine Seele die vereinsamt ist«, sagte er und fügte innerlich hinzu: »Ich bin ihm auch einen Besuch schuldig.«

      Allein, gestehen wir es nur, dieser auf den ersten Blick selbstverständliche Gedanke kam ihm bei eingehender Prüfung absonderlich, unmöglich, ja widerwärtig vor. Denn im Grunde genommen, theilte er die allgemeine Empfindung und das Conventsmitglied flößte ihm, ohne daß er sich klare Rechenschaft darüber gab, ein Gefühl ein, das an der Grenzlinie des Hasses liegt und das durch das Wort Abneigung treffend ausgedrückt wird.

      Darf jedoch der Hirt sich von einem Schaf abwenden, weil es räudig ist? Nein. Aber solch ein Schaf!

      Der gute Bischof war in Verlegenheit. Manchmal richtete er seine Schritte nach der Gegend hin, kehrte aber auf halbem Wege wieder um.

      Da verbreitete sich eines Tages in der Stadt das Gerücht, ein junger Hirt, der dem Conventsmitgliede G. in seinem Schlupfwinkel Handreichungen leistete, sei gekommen, einen Arzt zu holen; der alte Halunke liege im Sterben; die Lähmung, an der er litt, greife weiter um sich; er werde die Nacht nicht überleben. Gott sei Dank! meinten Viele.

      Der Bischof nahm seinen Stock, zog einen Ueberrock an, weil, wie schon erwähnt, seine Sutane zu schäbig geworden war, und machte sich auf den Weg.

      Die Sonne ging zur Rüste und stand schon dicht am Horizont, als der Bischof an dem vervehmten Ort anlangte. Das Herz klopfte ihm schneller, als er erkannte, daß er vor der Behausung des Elenden stand. Er schritt über einen Graben, stieg über eine Hecke, ging kühnen Schrittes durch einen vernachlässigten Garten und erblickte plötzlich hinter einem hohen Gesträuch, am andern Ende eines Brachfeldes, eine niedrige, armselige, kleine und saubere Hütte mit vergitterter Façade.

      Vor der Thür saß da in einem einfachen Rollstuhl ein Mann mit weißen Haaren, der sich mit Behagen im Sonnenschein wärmte.

      Neben dem Greise stand ein Hirtenknabe und hielt ihm eine Milchsatte hin.

      Während der Bischof sie betrachtete, sagte der Alte: »Danke, ich brauche nichts mehr« und wandte seinen freundlichen Blick von der Sonne dem Knaben zu.

      Der Bischof trat näher. Bei dem Geräusch der Schritts wandte sich der Greis, und sein Gesicht drückte so viel Erstaunen aus, als man nach einem langen Leben noch zu empfinden fähig ist.

      »Seitdem ich hier wohne«, hob er an, »ist dies das erste Mal, das Jemand zu mir kommt. Wer sind Sie, mein Herr?«

      »Ich nenne mich Bienvenu Myriel.«

      »Derselbe, den das Volk Se. Gnaden Herrn Bienvenu nennt.«

      »Der bin ich.«

      Ein Lächeln umspielte den Mund des Greises.

      »In diesem Fall sind Sie also mein Bischof?«

      »Eigentlich!«

      »Treten Sie näher, mein Herr!«

      Das Conventsmitglied reichte dem Bischof die Hand hin.

      Dieser aber gab ihm die seine nicht und bemerkte nur:

      »Ich sehe mit Vergnügen, daß man mich falsch berichtet hat. Sie sehen keineswegs krank aus.«

      »Bald wird mir besser sein«, antwortete der Greis.

      Er hielt inne und fuhr dann fort:

      »In drei Stunden sterbe ich. Ich habe mich etwas mit Medizin beschäftigt und kenne die Symptome, die das Herannahen des Todes melden. Gestern waren mir nur die Füße kalt; heute ist die Kälte bis zu den Knieen emporgestiegen; gegenwärtig fühle ich, daß sie durch den Unterleib empordringt; wenn sie das Herz erreicht, wird mein Leben still stehen. Schönes sonniges Wetter, nicht wahr? Ich habe mich ins Freie bringen lassen, um mir die Welt zum letzten Male anzusehen. Sie können reden, das Sprechen greift mich nicht an. Sie haben wohl gethan, zu einem Sterbenden zu kommen. Es ist besser, wenn ich im letzten Augenblick nicht allein bin. Man hat sonderbare Einfälle: Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt. Aber ich weiß, daß ich höchstens noch drei Stunden Frist habe. Dann wird es Nacht. Aber was schadet das? Das Sterben ist eine einfache Sache. Dazu braucht man nicht die Morgensonne. Wenn die Sterne scheinen, geht es auch.«

      Dann, zu dem Hirten gewandt, fuhr er fort:

      »Geh' schlafen. Du hast vorige Nacht gewacht. Du bist müde.« Der Knabe ging in die Hütte hinein.

      Der Greis sah ihm nach und sagte halblaut, als spreche er mit sich selbst:

      »Während er schläft, werde ich sterben. Der eine Schlaf wird den andern nicht stören.«

      Dem Bischof war nicht so feierlich zu Muthe, wie wohl zu erwarten gewesen wäre. In dieser Art zu sterben lag nichts, was ihn Gottes Gegenwart ahnen ließ. Zudem – wir müssen dies offen heraussagen, denn auch die kleinen Widersprüche großer Seelen dürfen nicht übergangen werden – fühlte er sich, er, der gern über den Titel »Bischöfliche Gnaden« spottete, verletzt, weil er mit »Mein Herr« angeredet wurde, und war versucht, das Conventsmitglied »Bürger« zu tituliren. Er hatte nicht übel Lust, einen unceremoniellen derben Ton anzuschlagen, wie er Aerzten und Priestern ziemlich gewöhnlich ist, in seiner Art aber nicht lag. Der Mann da vor ihm, dieses Conventsmitglied, dieser Volksvertreter war einer der Mächtigen dieser Welt gewesen, und zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben fühlte sich der Bischof geneigt, strenge zu verfahren.

      Der Sterbende dagegen hatte etwas Bescheidenes, fast Demüthiges in seinem Wesen, als gehöre sich das so, wenn man nahe daran ist, in Staub zu zerfallen.

      Der Bischof seinerseits, dem sonst Neugierde als eine Art Beleidigung erschien, beherrschte sich dieses Mal nicht und betrachtete das Conventsmitglied mit einer Aufmerksamkeit, die ihren Ursprung nicht in der Sympathie hatte und die sein Gewissen sonst getadelt hätte. Stand doch für ihn ein Conventsmitglied eigentlich außerhalb der Gesetze, ja sogar außerhalb des Gesetzes der Liebe.

      G., mit seiner würdevollen Ruhe, seiner aufrechten Haltung, seiner kräftigen Stimme, war einer jener Achtzigjährigen, über die der Physiologe erstaunt. Die Revolution hat viele solche Männer gehabt, deren körperliche Kraft im Verhältniß stand zu der geistigen Kraft ihrer Zeit. Man merkte, daß der Greis ein Mann von erprobter Tüchtigkeit war. Er besaß, nahe wie er seinem Ende war, noch alle Merkmale der Gesundheit. Sein klarer Blick, seine feste Sprache, seine kräftigen Schulterbewegungen hätten den Tod in Erstaunen setzen können. Asrël, der mohamedanische Engel des Grabes, wäre umgekehrt und hatte geglaubt, er sei nicht vor die rechte Thür gekommen. Es war, als stürbe dieser Mann, weil es ihm so beliebte. Sein Todeskampf hatte etwas Freiwilliges. Nur die Beine waren unbeweglich und todt, der Kopf dagegen war voller Lebenskraft. G. glich in diesem feierlichen Augenblick jenem König in Tausend und eine Nacht, dessen Unterkörper in Marmor verwandelt war.

      Der Bischof setzte sich auf einen Stein, der in der Nähe lag und begann ex abrupto:

      »Ich muß es loben« – aber aus seiner Stimme klang ein Tadel, »daß Sie wenigstens nicht für den Tod des Königs gestimmt haben.«


Скачать книгу