Rahel. Ellen Key
Sie spricht einmal von Elternschmerzen und sagt, daß sie sie wohl versteht, denn » viele Reiche des Schmerzes habe ich ergründet«. Das heiße Blut, der starke, rasche Puls, der sie ihr ganzes Leben lang in der Liebe leben und durch die Liebe leiden läßt, ist ein bei ihr zur höchsten Potenz gesteigerter Rassezug. Ihre Rasse und ihre Eigenart im Verein lassen sie mit unbedingter Hingabe und Treue an dem Gegenstand ihrer Liebe, Zärtlichkeit oder Freundschaft festhalten, auch wenn sie einsieht, daß sie ihr Gefühl ausschließlich aus eigenen Quellen nährt. Sie war dankbar, solange sie fortfahren konnte zu lieben, sie, die eines der bittersten Geheimnisse der Liebe gefunden: daß die Menschen sich nicht nur nicht verstehen, sondern sich »zu ungleichen Stunden lieben!«
Rahel hatte wohl ein theoretisches Selbstgefühl, ein Gefühl, dem sie ebenso ehrlichen wie berechtigten Ausdruck gibt. Aber wie bei allen Menschen, die aus dem einen oder anderen äußeren Grund – z. B. durch ein unvorteilhaftes Aeußeres, schwere Demütigung, verachtete Geburt – unzählige Male verletzt worden sind, war dieses Selbstgefühl bei ihr eben nur theoretisch. Es entsprang keinem spontanen Gefühl, es reichte weder für die im Alltagsleben notwendige Selbstbehauptung hin, noch für die in außergewöhnlichen Fällen notwendige Rücksichtslosigkeit. Zwei unaussprechliche Fehler hab' ich,« sagte Rahel mit Beziehung auf das Relief, das Tieck von ihr gemacht hatte. Dieses – wie auch ein anderes Porträt – fand sie sehr ähnlich; und beide waren ihr widerwärtig, weil sie diese beiden Fehler klar ausgedrückt sah: »Eine zu große Dankbarkeit und zuviel Rücksicht für menschlich Angesicht.« – »Eher kann ich nach dem eigenen Herzen mit der Hand fassen und es verletzen als ein Angesicht kränken und ein gekränktes sehen. Und zu dankbar bin ich, weil es mir schlecht ging und ich gleich an lauter Leisten und Vergelten denke.
Dies alles kommt daher, weil die holde, freigebige, sorglose Natur mir eines der feinsten und stärkst organisierten Herzen gegeben hat, die auf der Erde sind; weil ich keine persönliche Liebenswürdigkeit habe und man es also nicht sieht.
Ich habe viele Gaben, aber keinen Mut, nicht den Mut, der meine Gaben zu bewegen vermag, nicht den Mut, der mich genießen lehrte, wenn es auch einem anderen etwas kostet. Ich setzte jenes anderen Persönlichkeit höher als meine; ziehe Frieden dem Genuß vor und habe nie etwas gehabt.«
Man braucht nicht Jüdin zu sein, um die Erfahrung zu machen, daß Rücksicht und Fürsorge, Nachsicht und Güte nicht zur Folge haben, daß andere gegen uns so sind, wie wir gegen sie, falls sich diese Eigenschaften mit Anspruchslosigkeit für uns selbst verbinden. Der Anspruchslose wird übersehen, während der Anspruchsvolle und Rücksichtslose andere lehrt, ihm Rücksicht und Zartheit zu beweisen. Das ist eine Erfahrung, die man auch bei anderen Familien als der Rahels machen kann. Als Rahels Angehörige ihr einmal als Weihnachtsgeschenk einen ebenso unnötigen wie häßlichen Gegenstand gaben – und man sich damit entschuldigte, daß es »so schwer sei, etwas für sie zu finden« – sie, die für die geringste Freundlichkeit dankbar war und sich selbst so wenig als möglich anschaffte – da bricht Rahel in Klagen über ihren eigenen Mangel an Grazie aus, zu dem sie auch ihre Unfähigkeit rechnet, sich geltend zu machen!
Ein Freund Rahels, W. v. Burgsdorf, sagt mit tiefem Verständnis für ihr Wesen, daß er es gleich lernte, sie nicht buchstäblich zu nehmen, daß er hinter ihren Worten, die oft stärker schienen als der Anlaß, bald heraus fand, daß ein langer Schmerz sie erzogen haben müßte. »Denn – es ist wahr, daß eine Spur des erlittenen Schicksals an Ihnen sichtbar ist, daß man das früh gelernte Schweigen und Verbergen an Ihnen sieht... Jede Narbe, die das Schicksal dem Charakter läßt, stört Ihr Bewußtsein...« Aber er fügte tiefblickend diese Worte hinzu:
»Dieselbe Kraft, die den Schmerz zu erschöpfen strebt, führt Sie auch wieder so schön zur Freude zurück. Sie sind so voll leichten, schönen Lebens.«
Aber dieser lange Schmerz war nicht ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie ihre jüdische Geburt. Daß sie so viel verwundbarer, scheuer, rascher zurückgestoßen, schüchterner ist als die übrigen Jüdinnen ihres Kreises, dies erklärt sich aus den Verhältnissen, die ihre Kindheit und Jugend bestimmten. Rahel bezeichnet selbst die Leiden ihrer Kindheit und Jugend mit den Worten von dem starken Herzen, das die Natur ihr gegeben und das ihr »rauher, strenger, heftiger, launenhafter, genialischer, fast toller Vater übersah und brach. Mir jedes Talent zur Tat zerbrach, ohne solchen Charakter schwächen zu können.« Und so verlor sie auch den »Mut zum Glück«, den die Natur ihr doch gegeben hatte.
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Von diesem Vater, dem Bankier Levin-Markus – die Kinder nahmen später den Namen Robert an – gibt es in Berlin ein Bild, das Intelligenz, Genußsucht, Kraft und Härte zeigt. Das spanische Rohr, das er in der Hand hält war das Szepter, das er über der Familie schwang. Zu dieser Zeit war ja sowohl in christlichen wie in jüdischen Familien die Oberhoheit des Hausvaters ein noch unangetastetes Dogma. Aber dazu kam noch, daß dieser Vater persönlich ein Despot war, der von seiner Umgebung unbedingte Untertänigkeit verlangte, der weder einen selbständigen Willen noch eine der seinen widersprechende Meinung duldete.
Und unter der Gewalt dieses Vaters wuchs Rahel heran, deren Wesensart gerade die ausgeprägteste Selbständigkeit war!
Zu den vielen Machtsprüchen des Vaters gehörte auch der, daß in der Familie keine Geburtstage gefeiert werden durften. Rahel wußte so von dem ihren nur, daß sie am ersten Pfingsttage 1771 geboren war und daß dieser in den Mai gefallen war; ihre Biographen haben festgestellt, daß er in diesem Jahre auf den 19. Mai fiel. Sie war das erste Kind und so überaus zart und schwach, daß sie anfangs in einer Schachtel in Watte lag. Ihren Körper durch geeignete Mittel zu stärken, fiel ihren Eltern ebensowenig ein wie es damals andern Eltern in den Sinn gekommen wäre. Eine Krankheit nach der anderen griff in der Kindheit ihre empfindliche Konstitution an; und diese Empfindlichkeit dauerte das ganze Leben fort, als ein Teil ihrer Leiden, aber auch ihres Glücks. Denn die feine Organisation, die sie durch einen Windhauch erkranken und durch einen Sonnenstrahl genesen ließ, bedingte auch jene ungeheure Empfänglichkeit für alle Sinneseindrücke, durch die ihre Genüsse sich vertausendfachen. Diese Empfänglichkeit, diese »Reizsamkeit« in Lamprechts vertiefter Bedeutung des Wortes, hatte nichts von jener Rücksichtslosigkeit, jenem Mangel an Selbstbeherrschung an sich, den die modernen Menschen mit dem elastischen Begriff »Nervosität« bezeichnen und entschuldigen. Rahel hat vielleicht der Strenge im Hause ihre seltene Selbstbeherrschung zu danken, teils unmittelbar, teils, weil sie ihre Widerstandskraft hervorrief. Trotz alledem zu leben und inhaltsreich zu leben, ihre Umgebung ihre Leiden nicht merken zu lassen, darauf konzentrierte Rahel schon von den Kinderjahren an jene Willenskraft, die sie von ihrer Rasse im allgemeinen und von ihrem Vater im besonderen ererbt hatte.
Die Energie der Selbsterhaltung, die gerade die Kränklichkeit bei ihr noch steigerte, hatte sie in dem noch schwereren Kampf um die Selbständigkeit ihrer Persönlichkeit gegenüber jenem Vater sehr nötig, dessen Zornesausbrüche, unvernünftige Befehle, hohnvolle Worte und rohe Handgreiflichkeiten die ganze Familie vor ihm erzittern ließen. Nur Rahel wagte hie und da Widerstand. Ihre unbestechliche Wahrheitsliebe, ihre unbeugsame Selbständigkeit wurden vom Vater als Trotz und Eigensinn betrachtet, die er – mit demselben Genuß, mit dem der Kannibale Menschenglieder knickt – zu brechen sucht. Man schaudert bei dem Gedanken an die Mißhandlung, die das geistig wie körperlich gleich empfindliche Mädchen durchmachte, die Mißhandlung, die sie in die Worte zusammenfaßt:
»Eine gepeinigtere Jugend erlebt man nicht, kränker war man nicht, dem Wahnwitz näher nicht.«
Jedes Kind, das aus dem einen oder anderen Grande unter schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen ist, hat sein Lebenlang an den Folgen seiner ersten Lebensjahre zu tragen. So auch Rahel. In diesen Jahren litt sie so, daß sie nach ihren eigenen Worten ihre ganze Leidensfähigkeit für immer verbraucht haben sollte! Sie fühlt, daß der Mangel an Grazie – womit sie Freimütigkeit, Selbstvertrauen, Leichtigkeit meint – den sie so bitter empfindet, seinen Grund in dieser mißhandelten und unterdrückten Kindheit hat. Sie weiß, daß das Leben freundlich gegen jene Menschen ist, deren »erste Verhältnisse gesegnet sind«. Und diese nahen in der Tat dem Leben mit sonnigem Vertrauen, während die in der Kindheit Unglücklichen erstarrt und verzagt dastehen, wenn das Glück seine Hand