Rahel. Ellen Key
gefüllte Horizont« ihrer Seele »losgewittert«, ist es selbstverständlich, daß sie durch die leidenschaftliche Heftigkeit ihrer Meinungen erschreckte; daß man sie hochmütig oder herrschsüchtig nannte, wie eben die Menschen, die einer tiefen Ueberzeugung unfähig sind, die starken Ueberzeugungsmenschen zu nennen pflegen. Doch alle jene, die selbst eigene Ansichten hatten, fanden Rahel feinfühlig, taktvoll, nachsichtig, duldsam gegen alles außer gegen die anspruchsvolle Dummheit, Verleumdung und Lüge in jeder – mehr oder weniger bewußten, mehr oder weniger frechen – Form. Wenn Rahel sich z. B. schulmädchenhaft daran freut, »am hellen Sabbath« mit einer Opernsängerin im Wagen zu einer Generalprobe zu fahren, dann begreift man, wie sich der Druck der jüdischen Sitte mit dem des Familienlebens verband. Im ganzen blieb doch Rahels Verhältnis zu den Brüdern ein gutes; und wenn sie ausruft, daß sie sie »weder achteten noch liebten«, dürfen diese Worte nicht absolut genommen werden, sondern nur relativ, im Verhältnis zu Rahels eigener Fähigkeit der Hingebung.
Mit der Mutter hingegen wurde das Verhältnis schließlich so gespannt, daß diese verlangte, Rahel solle das ihr trotz allem liebgewordene Vaterhaus in der Jägerstraße verlassen, wo die Mutter dann in eine »düstere, ruppige, unbequeme« Einsamkeit versank, in »erbarmungswürdigen Geiz«. Aber täglich suchte die so vertriebene Rahel die Mutter auf, obgleich diese sie mit der größten Gleichgültigkeit aufnahm; bis die Mutter 1809 auf dem Totenbett lag und Rahel sie vier Monate hindurch Tag und Nacht pflegte. Die Nähe des Todes zerstreute die kleinen Mißverständnisse, die ihr das wirkliche Wesen der Tochter verborgen hatten. Die dankbare Liebe, die die Mutter Rahel endlich zeigte, sowie die Geduld, die sie im Leiden bewies, ließ Rahel sie mit einer »Leidenschaft von Schmerz« betrauern, obgleich Rahel ihr Verhältnis zu ihr ebensowenig umdichtete wie das zum Vater: ein jeder von ihnen hatte seinen Anteil an den Leiden der Kindheit und Jugend gehabt, unter denen ihr Herz gewehklagt hatte. Aber während sie dem Vater niemals verzeihen konnte, verzieh sie der Mutter, die ebenso wie sie selbst ein Opfer des Vaters gewesen war.
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Die Leiden, die die engherzige Natur der Mutter nur umdüstern konnten, entzündeten in Rahels Natur eine große Glut, die Glut des Mitgefühls und gaben ihr eine große Kraft: die der Einsamkeit. Die Innerlichkeit und Vertiefung, die die Einsamkeit – und nur sie – schenkt, hat Rahels Wesen in entscheidender Weise bestimmt. Wie sehr sie auch später Gesellschafts- und Geselligkeitsmensch wird, so lebt sie doch, bis Varnhagen kommt, in einer steten inneren Einsamkeit, geschaffen durch die Schicksale, von denen sie sagt, daß ihr ganzes Leben durch sie mörderisch beraubt oder unmenschlich zertreten wurde, oder daß sie unwürdig um das Leben selbst bestohlen worden ist. Und die Folge davon ist jener Mangel an Grazie, den sie so bitter empfindet. In einem Brief an Varnhagen, sagt Rahel: »Diese Woche habe ich empfunden, was ein Paradox ist: eine Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann, sich darzustellen; die gewaltsam in die Welt drängt und mit einer Verrenkung hervorbricht. So bin ich leider. Hierin liegt mein Tod. Nie kann mein Gemüt in schönen Schwingungen sanft einherfließen, wozu diese Schöne in der Tiefe meines geistigen Seins wie in den tiefen Eingeweiden der Erde verzaubert liegt. Wie richtig, geliebter Freund, und wie traurig vergleichst Du mich einem Baum, den man aus der Erde gerissen hat und dann seinen Wipfel hineingegraben; zu stark hat mich die Natur angelegt.«
Und sowie man Rahels besondere Denkkraft nur aus der Einsamkeit versteht, so versteht man ihren besonderen Gefühlston nur aus dem Leiden.
Rahel gehörte in geistiger Hinsicht zu derselben Art von Menschen, die man körperlich »Bluter« nennt. Eine Schramme, die bei einem anderen leicht heilt, kann bei ihnen zu Verblutung führen, und jedes Häutchen über einer Wunde ist so dünn, daß es bei dem leichtesten Stoß reißt und einen neuen Blutstrom verursacht.
Wer dies nicht einsieht, wird Rahel nie verstehen können, wenn sie mit den stärksten Worten von längstverflossenen Leiden spricht, oder wenn sie durch etwas, das anderen unwesentlich erscheint, zu Tode betrübt wird. Denn mit dieser kleinen Wunde gehen alle anderen Wunden auf, und in dieser Klage widerhallt die Klage ihres ganzen Volkes.
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Ob nun Rahel erkennen lernte, was sie ihrer Rasse zu danken hatte oder nicht: gewiß ist, daß die Bitterkeit, mit der sie in der Jugend von ihrer Geburt spricht, mit den Jahren verschwindet. Vielleicht kam dies ganz einfach von der Entwicklung jenes amor fati, der für den Menschen das ist, was die Blüte für die Aloe: ihre große Kraftprobe vor dem Tode. »Ich beneide keinen Menschen mehr als um Dinge, die niemand hat.« Diese Worte Rahels sind für ihren Seelenzustand in ihrem letzten Lebensabschnitt bezeichnend.
Rahel war stets bereit gewesen, für ihre Herkunft einzustehen. Ja, in Paris hatte sie sogar betont, daß sie eine »Jüdin aus Berlin« sei, und sich gefreut, daß sie ihrer Vaterstadt Ehre machte. So freute sie sich auch, als sie – in den Kriegsjahren – sowohl selbst wie durch ihre Glaubensgenossen den Christen die patriotische Opferwilligkeit der Juden zeigen konnte. Daß sie bei ihrer Verheiratung zum Christentum übertrat, war weder ein Abfall vom Judentum – dem sie nie gläubig angehangen – noch ein Glaubensakt gegenüber dem Christentum, sondern nur die Schaffung eines Gleichheitszeichens zwischen ihr und dem Manne, dessen Lebensstellung sie teilen sollte.
Als der patriotische Taumel nach dem Freiheitskriege Ausbrüche des Antisemitismus hervorrief, war sie tief empört und hielt auch bei ihren christlichen Freunden ihren eigenen Abscheu vor dieser Roheit wach. Je mehr sie – von der Abhängigkeit von ihren eigenen Angehörigen befreit – das Judentum objektiv sehen lernt, desto mehr söhnt sie sich auch mit dem Schicksal aus, das sie zu einem Mitglied dieses Volkes gemacht hat. Und auf dem Totenbette – als sie schließlich ihr ganzes Leben aus dem Gesichtspunkte der Ewigkeit sieht – preist sie in ergreifenden Worten das wunderbare Schicksal, das sie, »den Flüchtling aus dem Lande Aegypten und Kanaan« so geliebt gemacht wie sie es nun von ihren Teuern war. Schön sind diese ihre letzten Worte über die tiefe Qual ihres Lebens: »Mit erhabenem Entzücken denk' ich an diesen meinen Ursprung, und diesen ganzen Zusammenhang des Geschickes, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechtes mit der neuesten Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumformen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht' ich das jetzt missen.«
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