BÄR: CHIMÄRA. Michael Nolden

BÄR: CHIMÄRA - Michael Nolden


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dieser exzentrischen Abenteurer.

      Wenn Sie in den Besitz dieser Aufzeichnungen gelangt sind, kann das nur eines bedeuten: Die Boje mit den Bordtagebüchern wurde ausgeklinkt. Diese Notfallprozedur wird erst im Falle der Zerstörung meines Schiffes ausgelöst ...

      1: ANKUNFT

      Der kleine Mensch floh über den Dünenkamm. Er war nicht besonders schnell, obwohl er sich in seiner verzweifelten Flucht sehr bemühte, im tiefen Sand Tritt zu fassen. Mehrmals fiel er vornüber, raffte sich tapfer auf und, nach ein paar langsameren Schritten, rannte wieder los.

      »Figürlich unklar«, urteilte Jiminy auf seinem Stammplatz neben mir im Cockpit. Jedes der zehn Gliedmaßen des Roboters, die ausgreifenden Fühler nicht mitgerechnet, war beschäftigt, gab Daten ein, las sie aus, hielt ihn auf seiner speziellen Sitzkonstruktion fest. »Kleinwüchsig? Der geduckte Lauf ist seltsam. Vielleicht mutiert. Vielleicht ein Kind. Es fehlen Informationen.«

      Jiminy hatte mir empfohlen, ein Bordtagebuch zu führen. Nicht zum ersten Mal. In den gut fünfzig Jahren unserer gemeinsamen Reise im Sonnensystem hatte er mich mehrfach darauf hingewiesen, meine Erinnerungen zu speichern. Er hatte die Wichtigkeit dieser Maßnahme mit seinen eigenen vergessenen einhundert Jahren begründet. Jiminy schämte sich immer noch für den Ausfall diverser Speichereinheiten, die punktuell Phasen aus seiner eintausendjährigen Existenz und seines gesammelten Wissens vernichtet hatten, bewusst oder unbewusst gelöscht, von ihm persönlich oder von Unbekannten. Eine Rekonstruktion war ihm unmöglich gewesen. Wenn ihm langweilig war, jammerte er über sein Unvermögen, möglicherweise einmal lebensrettende Sachkenntnis besessen zu haben. So wie heute. Kurz bevor wir die Flucht unter uns entdeckt hatten.

      Meterlange, dunkle Stoffbahnen umwehten den Flüchtling bei jedem Sprung. Konkrete Formen waren unter dem Gewand nicht ablesbar. Seine Zweifüßigkeit war eindeutig. Die Bewegungsabfolge ließ auf zwei Arme schließen. Sie ruderten wild umher. Die fliehende Gestalt versuchte um jeden Preis, das Gleichgewicht auf dem unebenen und losen Untergrund zu wahren.

      Ich hatte noch nie Menschen von der Erde gesehen. Im Gegensatz zu Jiminy, der auf einem Kontinent namens Nordamerika gebaut worden war, damals noch viel kleiner und weitaus weniger leistungsfähig.

      »Ich vergrößere«, kündigte Jiminy an. Nasal und ungewöhnlich laut klang die elektronische Verzerrung seiner Stimme durch die Pilotenkanzel.

      Sie knarzte in meine Konzentration hinein. Menschen. Menschen von der Erde. Ich konnte mir meine Anspannung nicht erklären. Jiminy hatte mir allerhand Material aus der Vergangenheit gezeigt. Bilder. Töne. Filme. Holografische Aufzeichnungen aus jener Periode, spätes 20. bis frühes 22. Jahrhundert, gab es so gut wie keine. Die frühen Entwicklungen korrespondierten nicht mit unserer heutigen Technik. Die späteren waren im Dritten Weltkrieg der Erde größtenteils zerstört worden. Das Auftreten starker elektromagnetischer Felder kurz nach den Nuklearangriffen hatte die meist gering gesicherten Archive und ihre eingelagerten technischen Geräte in den getroffenen Gebieten unbrauchbar gemacht.

      Die Menschen waren einmal die Guten. Sie hatten ein paar tolle Ideen gehabt. Sie hatten sie bis hin zu einem beachtlichen Grad umgesetzt. Ausgereicht hatte es nicht. Jetzt werden sie als die Ausgestoßenen des Sonnensystems betrachtet. Argwöhnische Blicke verfolgen das Geschehen auf der Erde. So nah wie möglich, vom Hass und Ekel abgestoßen. Radiosignale werden aufgefangen, neue Ansätze von Bildübertragungen aus einem Chinkorusreich. Eines fürchten alle ringsherum im All. Dass sich jemals wieder ein irdisches Raumfahrzeug von dort erhebt und den Zwist mit uns, den Marsianern, sucht.

      Ich kniff die Augen zusammen und spürte, wie sehr ich diese Ängste verinnerlicht hatte. Die Szene auf dem Bildschirm spielte sich einen halben Kilometer unter uns ab.

      Nachdenklich strich ich über mein unrasiertes Kinn. In der Oberfläche des Monitors spiegelte sich mein Gesicht. Die langen Stoppeln auf der violetten Haut. Die Müdigkeit in den schwarzen Augen. Der leichte Schimmer vom Schweiß. Dank eines defekten Wasseraufbereiters hatte ich mich über zwei Wochen, Bordzeit, nicht mehr gewaschen. Trinken und Bewässern war wichtiger als Hygiene. Und als wäre das noch nicht genug, begriff die Ultraschalldusche die mangelnde Funktionalität ihres mechanischen Kollegen wohl als Streikauftakt und gab bei ihrer letzten Inbetriebnahme ein unmusikalisches Jaulen von sich. Daraus enstand ein Pfeifen, das in einem fast organischen Seufzen endete. Fast meinte ich ein geflüstertes »Kaputt« zum Schluss zu hören. Mir fehlten die Ersatzteile, ebenfalls solche Werkstoffe zum Nachbau in der bordeigenen Werkstatt.

      Unser Hinflug ohne Zwischenstopps hatte uns einige Entbehrungen und Problemlösungen abverlangt: Ein paar ausgebrannte Module in der Ladebucht. Ein Piratenboot voller inzestiöser Kannibalen. Eine außer Kontrolle geratene Pilzkultur in der Botaniksektion. Meine Leguankatze Pockels, die sich zur Geburt ihres Nachwuchses ausgerechnet mein kuschelig warmes Maschinendeck ausgesucht hatte. Und fehlende Sauberkeit.

      Jiminy besaß zwar Geruchsrezeptoren, beurteilte die Qualität von Düften oder Gestank aber grundsätzlich nicht. Meine Ausdünstungen waren für ihn lediglich chemische Zusammensetzungen. Er ertrug sie ohne zu murren.

      Plötzlich fegten knapp hinter der rennenden Person Sandfontänen in die Luft.

      »Sie schießen«, stellte Jiminy fest. »Keine Energiewaffen. Altmodische Projektile. Antiquierte Technik, möchte ich behaupten.« Seine acht optischen Einheiten begutachteten die Genauigkeit der Einschläge. »Es wäre ein Leichtes, ihr Ziel auf diese Entfernung zu treffen. Selbst mit diesen – Dingern«, fügte er mit elektronischer Geringschätzung an.

      »Sie wollen es nicht verletzen. Brauchen es noch«, dachte ich laut. »Ein Sklave? Jemand von Wert?« Der nächste Gedanke missfiel mir sehr. »Die schießen absichtlich daneben. Wollen ihren Spaß haben.«

      Der Flüchtling schlug Haken, tat einen Fehltritt und kullerte den Dünenkamm entlang, überschlug sich, grub die Arme in den Sand, lag schließlich still.

      »Ich mag das nicht.« Die Tönung meiner violetten Haut über der Nasenwurzel färbte sich bläulich. Wut kroch in mir hoch. Marsianische Geschichte hatte mich – und alle anderen auf meinem Heimatplaneten – eines gelehrt: Sklaventreiber waren um jeden Preis zu bekämpfen.

      »Vorsicht«, meinte Jiminy, »wir wollen uns nicht gleich mit den Menschen hier anlegen.«

      »Ja, ja, ich weiß«, erwiderte ich genervt über die überflüssige Belehrung. Meine Sympathien für Jiminy waren denen ähnlich, die ich für meine Brutkastengeschwister hegte. Wir halfen uns, brauchten einander, hatten uns oft gegenseitig aus Lebensgefahr gerettet – na, gut, er mich öfter, als ich ihn. Trotzdem! Mit meinen einhundert Marsjahren Lebenszeit war ich weit darüber hinaus, wie ein Kind behandelt zu werden. »Will nur meinen Spaß haben«, sagte ich und aktivierte das im Vergleich zum Rest des Schiffes lächerlich winzige Gaussgeschütz, einzig zu atmosphärischen Einsätzen eingebaut. »Klingt das für dich unvernünftig?«

      Das Verständnis von Ironie gehörte nicht zu Jiminys Stärken. Eingeschnappt schwieg er.

      »Gib mir was auf die Ohren.«

      »Gib mir was auf die Ohren. – Bitte!« Der Roboter rührte sich nicht.

      Ich holte tief Luft. »Gib mir was auf die Ohren. – Bitte.«

      Meine Vorlieben für solche Fälle waren Jiminy sattsam bekannt. Meine Vorfahren – noch von der Erde – entstammten nordamerikanischen Ureinwohnern. Mit der für eine KI typisch leidenschaftslosen Analyse hatte er zu Beginn seiner Lehrtätigkeit an meinem fünften Geburtstag aufgelistet, welche Genschnippsel sich in meiner DNS verbargen. Crow, Cherokee, Apachen, Kiowa, Cheyenne, Chickasaw und Irokesen – »Daher stammt bestimmt deine Vorliebe für diesen stacheligen Haarschnitt«, hatte der Roboter damals behauptet. Nun, vielleicht. Diese Vorliebe hatte ich mir bewahrt. – Ganz bestimmt jedoch war meinen marsianischen Ururgroßeltern eine Präferenz für Kriegstrommeln und Schlachtgesänge eingepflanzt worden. Diese hatten den Sklavensoldaten dazu gedient, die Adrenalinausschüttung zu erhöhen und eine enorme Leistungssteigerung zu erreichen. Allerdings war die dazu erforderliche Musik in den Datenbanken keineswegs üblich. Kampfschreie, das


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