BÄR: CHIMÄRA. Michael Nolden
geschätzt. Hätte ich sein Talent besessen, wäre ich so vorgegangen. Gegen die Panzerung des Leichten Frachters würde diesen archaischen Waffen kein Erfolg beschert sein.
Ob es der Kerl am Boden nun wusste, ahnte, ob er einfach zu blöd war, das war aus seiner Aktion nicht abzulesen, wie er sich daran machte, eine Art extrem langläufiges Gewehr vom Gurt an seiner Schulter zu ziehen und auf uns anzulegen. Dass Jiminy an Intellekt und Rechenleistung einen deutlichen Vorteil besaß, gestand ich ihm neidlos zu. In marsianisch-menschlichen Angelegenheiten hatte ich ihm einiges voraus. Es war kristallklar, wie sehr sich der Typ jetzt produzieren musste, damit er nicht an Autorität verlor.
»Eine charakterlich nicht ganz einwandfreie Reaktion auf unser Eingreifen«, befand Jiminy. »Der Mann sollte, selbst im stupidesten Winkel seines Gehirns, begreifen, wie sinnlos das Abfeuern der Waffe ist.«
»Das ist nicht der Zweck der Übung, Jiminy. Das hat mit Stolz zu tun.«
»Oder Jähzorn.«
Mag sein, dass der Roboter es besser verstand, einen Charakter zu entschlüsseln, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich war – zugegeben – das lebende Anschauungsmaterial an seiner Seite. Nicht selten schlug ich die klugen Ratschläge der Roboter-KI in den Wind. Wut war, je nach Situation, ein starker Antrieb, ganz besonders, wenn das Überleben im Vordergrund stand.
Etwas Qualm stieg von der Mündung des Gewehres auf, sobald der vermummte Mann zwei Schüsse in kurzer Folge abgab. Kein Geschoss fügte uns einen Schaden zu. Das Klimpern an der Bordwand bildete ich mir wahrscheinlich ein.
»Er hätte mit Steinen werfen können.« Jiminy verschob den Bildausschnitt auf dem Monitor. »Die haben genug. Und ihr Ausreißer ist in Reichweite. Er ruft ein paar aus der Karawane zusammen. Mr. Brown, siehst du die Handzeichen? Man will den Flüchtling einfangen. Es ist vorbei. Wir können uns wieder unserer Aufgabe zuwenden.«
»Wir stehen nicht unter Zeitdruck, oder?«
»Mr. Brown? Was soll das heißen?«
»Mr. Jiminy«, imitierte ich ihn, unterdrückte einen grunzenden Lacher, ehe ich in ein nasetriefendes Prusten ausbrach, weil gleich vier optische Einheiten an der Frontseite seines Schädels über Kreuz hingen, »Mr. Jiminy, hast du den Greifer an der Ladebucht, wie kürzlich besprochen, einer Wartung unterzogen?«
»Den Greifer, Mr. Brown?«, erwiderte der Roboter mit der ihm einprogrammierten Humorlosigkeit – von der ich überzeugt war, dass er sie nur vortäuschte. »Ich habe die turnusmäßige Wartung durchgeführt. Ich fand die Besprechung zuvor gänzlich unnötig ...«
»Wir schnappen ihnen ihre Beute weg!« Meine Begeisterung über diesen albernen Coup brach sich Bahn, und ich heulte überschwänglich durch das Cockpit. »Wir sinken ein paar Meter und holen uns den Flüchtling mit dem Greifer.«
»Darf ich anmerken, dass der Greifer für den Einsatz im Vakuum geschaffen wurde, das Endstück über Steuerungsdüsen verfügt, die einem Menschen schwere Verbrennungen zufügen können. Ganz im Gegensatz zu den schwebenden Containern der von dir aufgebrachten Schiffe.« Entrüstet, da die Myomerfasern seiner Optikhalterungen verkrampften, entknotete er die fehlgestellten Stränge manuell.
»Legal gekapert!«
»Was dem einen legal, ist dem anderen illegal, Mr. Brown. Dieser Flüchtling ist anscheinend im Besitz jener Bewaffneten ...«
»Ich diskutiere nicht mit dir! Das nicht!«, brüllte ich, ganz wie es mein Totem von Zeit zu Zeit von mir verlangte. Dann leiser, weil er nicht der Adressat meines Zorns war: »Ich muss dir nichts über die Auswirkungen von Sklaverei erzählen. Für ein Volk. Für den Einzelnen.«
»Nein – Mr. Brown. Musst du nicht. Ich gebe nur zu bedenken, dass eine moralisch richtige Entscheidung nicht automatisch die beste Entscheidung ist«, sagte Jiminy mit einem Unterton, der mich an meinen leiblichen Vater erinnerte.
Tief im Innersten rührte mich das Schicksal dieses Flüchtigen an. Allzu gerne rettete ich mich in Unsinn, wenn es zu ernst wurde. Wenn die Vergangenheit mich nachts im Traum folterte. Ich machte meine Witze über Sklaverei. Und ich verabscheute sie aus tiefster Seele! »Moral? Wann habe ich mich je von einer ethischen Einstellung leiten lassen?«
Der Roboter zögerte einen Moment. Eine bewusst gewählte Einleitung. »Du lässt dich von deinem Herzen leiten, Mr. Brown. Zufällig sind beide, Herz und Moral, in dieser Angelegenheit deckungsgleich. Ich weiß, wie wenig du der Vernunft – mir – in solchen Situationen den Vorrang gibst.«
Am Boden löste sich eine kleine Gruppe aus der Karawane. Sie nahmen die geduckte Person von zwei Seiten in die Zange. Die vierfüßigen Kamelartigen durchpflügten den Sand äußerst plump. Man hätte annehmen können, sie fielen im nächsten Augenblick. Es geschah flink, geprobt. Was hatte ich über Tradition gesagt? Auch Sklavenjäger besaßen irgendwann Routine.
Uns – mir blieb nicht mehr viel Zeit. Jiminy unterstützte mich notgedrungen und erfüllte damit das Versprechen, das er am Tag meiner Geburt meiner Mutter gegeben hatte. Ich übergab die Flugkontrolle an meinen robotischen Partner. Anschließend rief ich mir die Steuerung des Greifers auf die Konsole. Niemand hatte daran gedacht, ein vergleichbares Gerät für atmosphärische Einsätze zu konstruieren. Frachten wurden in Raumdocks oder -häfen eingeladen. Nach Abschaltung der Sicherung – die eigentlich verhindern sollte, dass der Greifer in der Gashülle eines Planeten zweckentfremdet wurde – visierte ich das menschliche Bündel in seiner Sandkuhle an. Meine Finger zitterten. Der nächste Knopfdruck rettete dem Flüchtigen das Leben oder brach ihm das Rückgrat. Eine Landung unter wildem Feuer kam auf einem Boden, dessen Standfestigkeit nicht einschätzbar war, unmöglich infrage. Wir konnten es uns nicht erlauben, auf der Erde, oder genauer, hier zu stranden. Obwohl meine Kriegerseele die direkte Konfrontation bevorzugt hätte. »Ziel erfasst!«
»Im Logbuch vermerkt.« Jiminys Bestätigung folgte das schräge Signalpiepen als Zeichen eines unlöschbaren Eintrags.
Drei Reiter waren von ihren Kamelartigen gesprungen. Zwei von ihnen spannten ein aus dünnen Riemen geflochtenes Netz zwischen sich auf, bereit, es über denjenigen zu werfen, der da, am Ende seiner Kräfte, als hilfloses Bündel versuchte, sich mit verkrümmten Händen tiefer in den Sand zu graben. Ein sinnloses Unterfangen, mitleiderregend geradezu.
Mein Daumen senkte sich auf den in einem klassischen Rot pulsierenden Abschussknopf.
»Es gäbe eine Alternative der Rettung.« Kühl, fast beiläufig vorgebracht. Auf den Punkt serviert, just da eine Schweißperle von meiner Nasenspitze tropfte.
»Was?!«
»Ich wollte deine Konzentration nicht stören, Mr. Brown. Ich habe in den vergangenen zehn Sekunden verschiedene Varianten deiner Geschicklichkeit simuliert. Die Ergebnisse waren durchweg ernüchternd. Für den Leidtragenden, den Flüchtling, war von schweren Verbrennungen mit Todesfolge bis über Knochenbrüche mit Todesfolge bis Tod durch Gewehrfeuer, am Greifer hängend, alles gleichermaßen unerfreulich. Darf ich die Alternative erläutern?«
»Rasch!«
Es ging anders. Jiminy hatte es sich sehr gut überlegt. Ich konnte es tatsächlich schaffen. Die Überlebenschancen der zu rettenden Person stiegen dramatisch, während meine eigenen etwas ins Minus rutschten. Ich beeilte mich, zur Laderampe und der Ausstiegsluke für die Mannschaften – also nur für mich – zu gelangen. Eine halbe Minute, mehr benötigte ich nicht. »Bin gleich soweit«, rief ich ins Comlink an meiner Schulter. »Status?«
»Der Gefangene wehrt sich. Optische Analyse zeigt ein Kind.«
»Ein Kind?« Panik überfiel mich. Fast hätte ich bei der Anlegeprozedur des Sicherungssystems einen Fehler begangen, einen fatalen Fehler. Ich korrigierte ihn hastig. Schulter-, Brust-, Bauch- und Beinriemen lagen eng an. Die Schnappverschlüsse rasteten klickend ein. Kleine Servos zogen das Gurtgeflecht stramm. Das Allerletzte, was ich wollte, war, bei dem zweifellos halsbrecherischen Einsatz aus der Gurtkonstruktion herauszurutschen. »Aktion starten!«
»Aktion läuft. Erhöhe Geschwindigkeit. Sobald der Gefangene an einem Kamelartigen festgebunden ist, kann es nicht