BÄR: CHIMÄRA. Michael Nolden

BÄR: CHIMÄRA - Michael Nolden


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den Retter spielen wollen.« Es hatte eine nüchterne Feststellung sein sollen und klang doch wie eine Anklage. »Die Kolonne 50 hat nicht genug Platz, um jeden Hilfsbedürftigen aufzunehmen. Manche wollen gar nicht an einem Ort leben. Aber alle wollen sie Wasser. Das ist eine vernünftige Lösung. Sie nehmen einen auf, gegen die gelieferte Arbeitskraft gibt es eine bestimmte Menge Wasser. Da drin arbeiten alle. Das ist keine Sklaverei. Der- oder diejenige muss sich keine Gedanken mehr über Hunger oder Durst machen, Kinder lernen hier etwas, erhalten eine Ausbildung.« Eine Pause extra für mich zum Nachdenken. »Das ist keine Sklaverei. Das ist so ...«

      »Ja, ist so Brauch!«, grunzte ich. Meine Beine stemmten sich gegen die irdische Schwerkraft. Ein Sprung in die Höhe, hin zu meinem Boxcontainer, ein Tritt, und die nächste Vertiefung deformierte den Transportbehälter.

      Ich war nicht bereit, mich mit den Gegebenheiten abzufinden. Gedankenexperimente donnerten durch meinen Kopf. Nichts führte zu einem befriedigendem Ergebnis. Am Ende hatte Jiminy recht. Wir waren fremd hier. Wer war ich, dass ich binnen kürzester Zeit ein System auf den Kopf stellen wollte? Für eine einzige Person? Die ich nicht einmal kannte? Nur flüchtig gesprochen hatte. Einer, der sich auf die Fahne geschrieben hatte, professionell und kalt Aufträge zu erledigen, wofür andere zu unfähig waren. Der harte Brocken, der starke Bär, von dem eine nicht unbeträchtliche Anzahl Bewohner auf dem Mars gehört hatte. Gutes, Schlechtes und aus meiner Sicht immer irgendwie schmeichelhaft. Ein Krieger, ein Schmuggler, einer, der niemals aufgab. Letzteres gab mir wieder zu denken. Das widersprach meinem mechanischen Gewissen namens Jiminy. Indes, eine Lösung wollte mir nicht einfallen.

      Die Nacht senkte sich erneut über unsere Hälfte der Erde herab. Schmollend hatte ich meinen Pilotensitz erklommen und starrte von dort aus der Sichtluke. Ich sah Sterne über der Wüste funkeln. Grünlich gedimmt strahlten die meisten abgeschalteten Instrumente dagegen an.

      Im schummrigen Licht bemerkte ich die Annäherung von Pockels zuerst nicht. Ein krummer, wenig artistisch ausgeführter Satz, gleichfalls gegen die Schwerkraft angekämpft, brachte sie auf meine Schulter. Ihre aus Schuppen und borstigen Haaren bestehende Oberfläche rieb kratzig gegen meine Wange. Pockels knurrte verliebt.

      Ich streichelte über ihren bunten Kragen. »Wo sind deine Jungen?«, nuschelte ich schläfrig. »Würdest du die auch gegen Wasser eintauschen?« Über die Sicherheitskameras holte ich mir ein Bild von Pockels' Wochenbett auf den Kontrollmonitor. Nicht weit von der Ummantelung des Fusionsreaktors entfernt, unter einem Dach aus rot lackierten Streben, rekelte sich ihr Nachwuchs in der wohligen Wärme. Fünf blinde Leguankatzen. Der erhöhte Zug an ihrem Körper schien ihnen nichts auszumachen. »Musst du die nicht füttern? Milch geben?«

      Sie nieste in meinen Nacken.

      Etwas Glibber floß meine Haut hinab. »Bah! Pockels!«, rief ich und stieß die Leguankatze von der Schulter.

      »Bist du noch beleidigt?«, meldete sich Jiminy in das gekränkte Miauen von Pockels hinein.

      Mein Schmusetier verschwand aus dem Cockpit.

      »Würde es etwas ändern?«, schnauzte ich. Bedachte der Roboter Tonfall, Tonhöhe und Geschwindigkeit meiner Gegenfrage, sollte ihm meine Stimmung kein Geheimnis und seine Frage somit beantwortet sein.

      »Ich habe den RIKTER-CODE einer neuerlichen Prüfung unterzogen. Unter Zuhilfenahme der jüngst gewonnenen Daten. Es ist interessant. Farbnuancen in den Quadraten sind ein Teil des Rätsels Lösung. Ich denke, nach meiner bisherigen Erkenntnis, dass neben einer Botschaft sich eine Ortsangabe darin verbirgt. Der RIKTER-CODE verweist auf ein Ziel irgendwo auf diesem Planeten. Ich denke, dass ich das schon bald genauer bestimmen kann.«

      Selbstzufrieden lehnte ich mich in meinem Sitz zurück. »Wir haben nicht die Aufgabe übernommen, den RIKTER-CODE zu entschlüsseln. Wir werden nicht dafür bezahlt. Im Gegenteil! Wir könnten Ärger bekommen, wenn wir – du eine Lösung findest, von der wir nichts wissen sollen! Wer bringt uns denn jetzt in Schwierigkeiten? Hm? Wer? Wer, frag ich dich?« Ich schwieg eine Weile, während derer sich Jiminy einer Antwort ebenfalls durch Schweigen entzog. »Oder hast du einen zusätzlichen Auftrag angenommen? Etwas, von dem ich schon wieder nichts weiß?« Peinlich berührtes Knistern aus den Bordlautsprechern. Das war wenigstens meine Interpretation. »Jiminy?«

      »Ich ...« Die Roboter-KI wand sich, versuchte es mit einer Fehlfunktion. Die letzte echte hatte er vor zwanzig Jahren gehabt.

      »Hör auf damit!«, sagte ich.

      »Darf ich eintreten?« Von der Kanzeltür her, elektronisch schüchtern vorgetragen. Sechs Gliedmaßen klackten über den Boden, mit vieren hielt er sich am Eingangsrahmen fest, als wolle er sich größer machen. Angesichts seines fragilen Aufbaus war das noch nie gelungen. Er versuchte, mich auf eine verspielte Art zu beeindrucken und krabbelte über den Rahmen hin zur Decke des Cockpits, krallte sich in den Vertiefungen der dort angebrachten Instrumente fest und baumelte genau über meinem Kopf. Seine acht optischen Einheiten glotzten auf mich herab. »Ich seh dir in die Augen, Kleiner«, brummte er.

      »Lass den Unsinn!«, maulte ich. »Das zieht jetzt nicht.«

      Er presste seine Optiken paarweise gegeneinander. Merkwürdig anzuschauen, wie er sich selbst die Sicht nahm. Ein Eingeständnis seiner Scham.

      Das hatte bei meinen Eltern funktioniert. Mich fing er damit nicht ein. »Hör auf. Ich möchte bloß wissen, warum du mich hintergangen hast.«

      »Tamati Tane gibt mir etwas für Erkenntnisse über den RIKTER-CODE.« Zwei optische Einheiten lösten sich voneinander und starrten auf mich nieder. »Als Gegenleistung verspricht er, elf Jahre meines gelöschten Datenspeichers wieder herzustellen. Elf wichtige Jahre, sagt er.«

      »Wie das?«, fragte ich elektrisiert, weil ich wusste, wie viel ihm daran lag. »Woher will er die haben?«

      Jiminy wagte es und legte die nächsten zwei Optiken frei. »Das wollte er mir nicht offenbaren. Allerdings hat er einen Beweis für die Existenz der Daten abgeliefert. Eigentlich waren es zwölf Jahre. Er hat mir eines zum Beweis geschenkt. Die Daten fügen sich nahtlos in meine ein. Unterbrochene Stränge, teils nur einzelne Pixel aus Bildern, Rasterlinien aus Holografien, Texte, verschollene Tagebücher deiner Großeltern, Tonfragmente sind plötzlich wieder da. Es passt, Bär. Alles passt.« Ein elektronisches Äquivalent von Aufregung überkam den Roboter. Jiminy nutzte meine nachdenkliche Minute zur Freilegung eines weiteren optischen Paares. Zu einem Viertel blind hob er schließlich an: »Und? Bär?«

      »Und was?« Es mochte der allgegenwärtige Druck auf mir sein, dass es mir nur schwer gelang, meine Emotionen in eine verzeihende Richtung zu lenken.

      »Mein Gedächtnis, Bär«, meinte Jiminy, »ich weiß nicht, wieso die Löschungen vorgenommen worden sind. Die eine Lösung könnte zur anderen führen.«

      Ich grinste böse. »Und wenn du es gar nicht wissen sollst? Es selber gelöscht hast? Uns die Lösung nur Schwierigkeiten macht? Uns allen beiden? Hast du das bedacht?« Meine Fäuste hieben auf die Lehnen des Pilotensitzes. »Natürlich hast du. Seltsam genug, dass es dir egal ist! Jiminy, wir müssen dringend an unserer Komunikation arbeiten.«

      Alle acht Optiken des Roboters gafften mich an. Zwei der Einheiten stellten sich über kreuz.

      Als ich die Kanzel mit der Eleganz eines fußkranken elysischen Büffels verließ, hing er, eingefroren in der Bewegung, an der Instrumententafel für die Startsequenz und sinnierte vor sich hin.

      7: KRIEG

      Der nächste Morgen, gleich nach Sonnenaufgang, brachte althergebrachte Schlepperei von Ersatzteilen, Metalle, die ich in der Werkstatt in die benötigten Formen zu schmelzen gedachte. Wasser pumpte derweil aus dem Reservoir in unsere Vorratsbehälter. Es würde guttun, frisches, neues Wasser zu trinken. Obwohl die Aufbereitungsanlage bestens arbeitete. Aber da ich wusste, woher das tägliche Wasser kam, welchen Weg es genommen hatte, ging mit ungebrauchtem Wasser nicht nur eine geschmackliche, sondern auch eine gedankliche Wohltat einher.

      Babbellies zeigte sich großzügig, nachdem ich ihr erklärt und gezeigt hatte, wo überall in der


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