Lavanda. Isabella Kniest
Stimme holte ihn aus seiner Gedankenwelt und lenkte seine Aufmerksamkeit nach rechts.
In all den aufgetürmten Papierstapeln, Ordnern und Plakaten hätte er die Frau beinahe übersehen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Sie war jung.
Sehr jung.
Ihre bedrückt anmutende Tonlage hingegen sprach von ausgeprägter Lebenserfahrung und schmerzhaften Schicksalsschlägen.
Innerlich schüttelte Lilian den Kopf.
Woher kamen diese Erwägungen?
Lag es an seinem eigenen erbärmlichen Leben, Mitmenschen augenblicklich einer genauen Analyse unterziehen zu müssen?
»Verzeihung, wäre es –«
Überraschend erhob sich das Mädchen und trat aus der vollgestopften Szenerie hervor – und für einen nichtssagenden Moment veränderte sich Lilians Perzeption. Weder nahm er den Gestank wahr noch die summenden, sie beide einkreisenden Geräte oder die vor sich hin verstaubenden fertiggestellten Druckaufträge. Ausnahmslos sie sah er – ihren traurigen müden Gesichtsausdruck, das mit einem Haarstab befestigte brünette Haar, ihr eng anliegendes, dunkelblaues Businesskleid.
Eine eigenartige Verbundenheit breitete sich in seinem aufgewühlten Innersten aus … etwas wie Sicherheit, Heimatgefühl, Vertrautheit – kurz: Manipulierender, dich vernichtender Irrsinn!
Der zauberhafte Nebelschleier verschwand. An seine Stelle trat regelrechte Abscheu. Abscheu gegenüber des Mädchens Aussehen, dessen erzwungen elegante Körperhaltung und Männer einlullende große runde Augen.
Noch so eine!
Er kannte Frauen. Besonders diesen Schlag.
Sie waren durchtrieben, hinterfotzig, verlogen und egoistisch. Selbst seine Mutter gehörte dieser ausnutzenden Bagage an.
Lilian entdeckte protzige, dunkelblaue Ohrringe und eine ungleich dekadenter aussehende farblich mit ihrem Kleid harmonisierende Halskette.
Geschenke ihrer Ex-Freunde oder dem ihr alles in den Hintern schiebenden Papa?
»Holen Sie einen Druckauftrag ab?«
Des manipulierenden Miststücks Frage beendete seine Grübelei.
»Nein, ich wollte lediglich darum bitten, ob ich für eine halbe Stunde Ihren Parkplatz benützen dürfte.«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich – zeigte er Besorgnis?
Nein. Er zeigte Verdruss.
»Es tut mir leid, das geht nicht.«
Verdammte Scheiße!
Lilian warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr.
Dieser Tusse wegen würde er den Termin versäumen.
»Es wäre lediglich für eine halbe Stunde. Ist es nicht irgendwie möglich?«
Sie verneinte. »Tut mir leid.«
Ihr verdammtes Tut-mir-Leid konnte sie sich in ihr hübsches Antlitz schmieren!
»Es ist ein Notfall«, drängte Lilian und hielt sich erst gar nicht mehr davon ab, seinen aus Verzweiflung und Verbitterung entstandenen Frust zu verbergen. »Normalerweise bitte ich nicht um einen Gratisparkplatz. Allerdings sind sämtliche kostenlose Abstellplätze belegt, und ich habe nicht genügend Kleingeld dabei, um ein Ticket zu ziehen. Hätte ich das Geld, würde ich nicht hier stehen und wie ein Bittsteller auf den Knien rumrutschen. Ich habe einen dringenden Termin um halb zwei in der Richtstraße. Ich schaffe es nicht mehr, falls ich nicht sofort losgehe.«
Es war ihm unmöglich zu erklären, weshalb er ihr sein Herz ausschüttete.
War er dermaßen verzweifelt?
Ja, wahrscheinlich.
Und ebenso wahrscheinlich war es, sich von dieser verzwickten Bürotante nun Vorwürfe anhören zu müssen, welche etwa folgendermaßen lauteten: Sie müssen zeitiger wegfahren und genügend Geld bei sich führen. Alles andere ist unverantwortlich und zeugt günstigstenfalls von nicht vorhandenem Verantwortungsbewusstsein – Charakterzüge, die ein vernünftiger, erwachsener Mensch grundsätzlich aufweisen muss, möchte dieser etwas erreichen im Leben.
Typisch Weiber! Jammern, nörgeln und besserwisserisches Getue – daraus bestand ihr quietschbuntes Barbiepuppen-Leben.
Aber mit ihm nicht!
Sollte dieser Vorzimmerdrachen eine solche Anspielung wagen, würde er ihr anständig die Leviten lesen!
Er war kein pubertierendes Pickelgesicht mehr, das um Aufmerksamkeit und Verständnis kämpfen musste! Er musste gar nichts! Nichts, außer sterben!
Die Furie vor ihm blickte nach links – zu einer an der Wand hängenden runden Plastikuhr. Anschließend wandte sie sich stumm ab und schritt zurück Richtung Arbeitsplatz.
Wollte sie ihm damit klarmachen, er brauche nichts zu sagen, da sie keine weitere Zeit vergeuden wollte und ihm nicht mehr zuhörte?
Sie fasste nach … einer Tasche?
Korrektur: nach einer dekadenten goldfarbigen Tasche.
Sie kramte darin und trat wenige Augenblicke später wieder zu ihm. »Von uns aus zu Fuß bis zur Richtstraße? Sie kämen niemals zeitig an. Hier.« Sie streckte die Hand aus. Zwischen ihren Fingern hielt sie zwei Zwei-Euro-Münzen. »Parken Sie in der groß angelegten Tiefgarage in der Anderluhstraße. Dann schaffen Sie es möglicherweise.«
Blinzelnd betrachtete Lilian die schimmernden Münzen.
Er wusste nicht, was er sagen, denken oder tun sollte.
»Hier, nehmen Sie«, befahl sie drängender. »Ansonsten kommen Sie ernsthaft zu spät.«
Irgendwann bootete sein Gehirn und er besah die Frau intensiv. »Verzeihen Sie die Frage … weshalb tun sie das?«
»Ganz ehrlich?« Sie hob die Augenbrauen an, schien abzuwiegen – und stieß den Atem anschließend hörbar aus. »Mein Chef will niemanden mehr bei uns parken lassen. Wir hatten unzählige, aber vor allem kostspielige Probleme deswegen: Widerrechtlich abgestellte abgemeldete Fahrzeuge, für deren Entfernung letztendlich wir aufkommen mussten. Oder stundenlang blockierte Parkplätze durch Patienten der hundert Meter weiter links befindlichen Zahnarztordination.« Diese vorhin aufgeblitzte Missgunst trat erneut in Erscheinung. »Seit Jahren kämpfen wir dagegen an, weshalb wir uns entschlossen haben, jeden rigoros anzuzeigen, der sein Kraftfahrzeug widerrechtlich abstellt. Würde ich Ihnen somit die Parkerlaubnis geben, würde mein Chef sofort eine Anzeige erstatten, alsbald er Ihren Wagen bemerkt. Ich wiederum müsste ihn über Ihren dringlichen Termin aufklären, was bedeutet hätte, mir eine dreißigminütige Standpauke über unsere neuen Parkvorschriften anhören zu müssen, wie: Es gäbe keine Ausnahmen mehr und ich müsse mich an die Hausregeln halten, schließlich würde mein Lohn nicht von Verkehrsteilnehmern gezahlt. Bla, bla.« Ihr angenervtes Mienenspiel legte nochmals kräftig an Vehemenz zu. »Glauben Sie mir, dieses Gezeter will ich mir nicht mehr antun. Besonders nicht für jemanden, welcher eine einfache Parkgelegenheit braucht und den ich niemals mehr in meinem Leben wiedersehen werde. Verstehen Sie?«
Lilian verstand.
Und wie er verstand!
Für diese schonungslose Ehrlichkeit und Freundlichkeit war er ihr unendlich dankbar.
»Vielen Dank.« Zögerlich nahm er die Münzen an sich. »Sobald es mir möglich ist, gebe ich Ihnen das Geld zurück. Versprochen.«
»Ist schon in Ordnung.« Der Bürokraft saloppen Sprechweise gelang es nicht über die Tatsache hinwegzutäuschen, über seine Dankbarkeit erfreut zu sein. Dies zeigten ihm ihre sich schüchtern aufhellenden Gesichtszüge. »Gehen Sie lieber, ansonsten kommen Sie wirklich zu spät.«
Diese minimale Freude klinkte sich augenblicklich in sein Herz ein, füllte ihn mit einer fremdartigen Wärme und Erleichterung.