Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter

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Mädchen lächelte vage. „Danke. Und Sie?“

      „Annie.“

      „Auch ganz okay.“

      Annie konnte sich nicht helfen, die Kleine kam ihr bekannt vor. „Bist du von zuhause weggelaufen?“

      „Nein, ich mache nur einen Spaziergang.“

      „Worüber deine Eltern informiert sind?“ Sie war bestimmt kaum älter als zwölf oder dreizehn Jahre.

      Leni senkte den Blick. „Es wird nicht weiter auffallen, dass ich weg bin. Außerdem wollte ich in Ruhe telefonieren. Muss mein Dad nicht unbedingt mitkriegen.“

      „Ein Junge?“ Annie dachte unweigerlich an Roger. Dieser Arsch!

      „Nein“, entgegnete Leni und zog ein goldenes Handy aus der Hosentasche. Ein ähnliches hatte der Angeber von heute Morgen auch gehabt. „Ich schätze, der Mann ist bereits über siebzig oder so.“

      „Du liebe Zeit, mit einem so alten Mann solltest du dich besser nicht einlassen.“

      Jetzt grinste die Kleine. „Nicht, was Sie denken. Ich bin auf einer geheimen Mission. Und nun muss ich weiter, sonst fliegt er ab, ohne dass ich ihn warnen konnte.“ Schon lief Leni an ihr vorbei. Annie schaute ihr kopfschüttelnd nach, bis sie an der Ecke verschwunden war. Dann eilte sie ebenfalls weiter, denn sie wollte dorthin, wo sie einst so glücklich war.

      3. Kapitel

Grafik 14

      Das Geschäft des Großvaters lag verwaist da, als Annie langsam über den kiesbestreuten Parkplatz heranfuhr und schließlich das Auto abstellte. Mit Tränen in den Augen legte sie die Hände auf das Lenkrad und betrachtete das Haus, in dem sie so viel Geborgenheit und Liebe gefunden hatte. In den Fenstern spiegelten sich die Klippen und das Meer. Es verlieh dem Geschäft etwas Lebendigkeit, denn die Fassade war ansonsten trostlos grau. Da half auch der Apfelbaum wenig, denn er würde nie wieder blühen – noch Blätter oder Früchte haben. Seltsamerweise war er nur ein Jahr nach dem Tod des Großvaters abgestorben, was sich niemand erklären konnte. Eigentlich hätte er längst entfernt werden müssen, aber Annie hätte es das Herz gebrochen, weil auch die Bank damit fort wäre, die inzwischen ziemlich verwittert war.

      Von Erinnerungen übermannt stieg Annie aus und ging auf den Eingang zu. Kurz kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und sperrte wenige Sekunden später auf. Als sie das Geschäft betrat, war es, als wäre die Zeit stehengeblieben. Wie das kleine Mädchen von damals blickte sie sich ehrfürchtig um und glaubte, trotz des abgestandenen Geruchs den vertrauten Duft von Äpfeln wahrzunehmen.

      Wehmütig ging sie am Verkaufstresen mit den leeren Glasvitrinen vorbei, blieb vor dem Werktisch unter dem dreieckigen Fenster stehen und blickte auf die Küste. Eine Weile vertiefte sie sich in den Anblick, bevor sie sich bückte und das lose Dielenbrett anhob. Mit zitternder Hand nahm Annie das Kästchen und stellte es vor sich auf den Boden. Dann holte sie den Brief aus dem Geheimversteck, den ihr Grandpa kurz vor seinem Tod dazugelegt haben musste. Liebe Annie, stand in seiner kaum leserlichen Schrift da, Wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr bei dir sein, denn mein Weg ist bald zu Ende. Ich spüre es deutlich. Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Nichts fällt mir schwerer, als dich zu verlassen und doch ist es der Lauf des Lebens. Aber ein Teil von mir wird bei dir bleiben, so wie ein Teil von mir damals mit Olivia starb. Was wir dir jedoch beide hinterlassen ist der Glaube an die wahre Liebe. An Magie und an Wunder. Ja, Annie, ich glaube fest daran. All das befindet sich vielleicht in diesem Kästchen. Doch öffne es erst an deinem dreißigsten Geburtstag. Ich habe das Gefühl, dass es so sein soll. So, und nicht anders. Und vergiss nicht: Alles kommt zur rechten Zeit. Auch die Liebe, die ebenfalls ein Wunder ist. Dein Grandpa Randall.

      Mit Tränen in den Augen glitt Annie zärtlich über das Herzschloss, das sie in Gedanken schon oft aufgesperrt hatte, aber das Geheimnis musste warten. Nicht nur, weil es der letzte Wille ihres Grandpas war – sondern weil seine Worte weise klangen, als müsste es tatsächlich genauso sein. Dennoch war sie natürlich neugierig. Um nicht in Versuchung zu kommen, das Kästchen vor Ablauf der Zeit zu öffnen, bewahrte sie den Schlüssel zuhause auf.

      Annie wischte die Tränen fort, legte den Brief und das Kästchen zurück, schob das Dielenbrett darüber und erhob sich. Gedankenverloren blickte sie auf den Werktisch. Ein paar Wachsmodelle lagen darauf, die als Vorlage für Schmuckstücke gedient hatten. Der Stuhl stand schief da, als hätte ihn ihr Grandpa gerade erst verlassen. Meistens hatte er hier gesessen und ziseliert, gelötet, gegossen, geschmolzen, geätzt oder gefräst. In den kleinen Samtschatullen am oberen Tischrand befanden sich Holz, kleine Metallstücke, Perlen, Glas und Zirkonia-Steine, die längst nicht mehr glänzten, weil sie von einer Staubschicht bedeckt waren. Wie die Maschinen zum Kratzen oder Walzen, das Poliergerät oder der Brennofen, die auf dem Beistelltisch standen. Daneben lagen Sägen, Pinsel, Schablonen, Bohrer, kleine Hämmerchen, Zangen, Winkelmesser, Gravurstifte, Metallscheren und anderes in der üblichen Unordnung. Ihr Grandpa hatte das Chaos gebraucht wie die meisten Künstler und nirgends spürte Annie seine Nähe mehr als hier. Seine Liebe sowie das Wissen, dass er bei ihr war. Er hätte bestimmt gewusst, wie sie mit allem umgehen sollte. Oder zumindest Worte gefunden, um sie aufzumuntern, denn allmählich war ihr Stolz ziemlich angekratzt. Zuerst wurde sie eine Arbeit nach der anderen los, nun heiratete Roger diese Trish und über kurz oder lang würde sie womöglich das Geschäft verlieren. Konnte es noch schlimmer kommen?

      Ein Geräusch schreckte sie hoch. Annie wandte sich um und blickte zum Fenster neben der Eingangstür. Als sie Harrys Wagen erkannte, kam Wut in ihr hoch. Brachte er ihr die Papiere höchstpersönlich vorbei, um sich an ihrem Elend zu weiden?

      Zu allem entschlossen eilte sie aus dem Geschäft. Als Mister Flatley aus dem Auto stieg, blieb sie abrupt am Eingang stehen. Was wollte der denn hier? Hatte er es sich anders überlegt und sie musste die Rechnung doch bezahlen? Kurz schossen ihr auch Roses Worte durch den Kopf, die sie jedoch sofort beiseite wischte. Humbug, nichts weiter

      „Sieh an, so klein ist die Welt“, meinte er nicht weniger überrascht, als sie sich fühlte, während er die Autotür zuschlug und auf sie zukam. „Ich habe mir schon gedacht, dass ich das Vehikel von irgendwoher kenne.“

      „Was tun Sie mit Harrys Wagen?“, ging sie nicht auf seine Beleidigung ein.

      „Er hat ihn mir geliehen. Meine Limousine ist hinüber.“ Mister Flatley stand dicht vor Annie und sein Roger-After-Shave hatte diesmal eine noch verheerendere Wirkung auf sie, denn sie hörte förmlich Hochzeitsglocken läuten. Durchdringend und laut.

      „Harry leiht niemandem sein teures Spielzeug.“

      „Mir schon“, meinte Flatley selbstherrlich. „Ich schätze, dass ich sein Vertrauen genieße.“

      „Oder er lässt sich gut dafür bezahlen. Sie nehmen sich ja gern Bedürftigen an.“

      „Wieso wetzen Sie die Nägel? Sind Sie immer noch nicht über die Kündigung hinweg?“

      „Die habe ich bereits vergessen“, wetterte Annie, „immerhin ist sie einige Stunden her.“

      „Eben. Deswegen sollten Sie fleißig neue Bewerbungen schreiben. Von nichts kommt nichts.“ Seine stoische Ruhe schürte ihren Zorn, als würde jemand auf schwelende Glut blasen. Noch dazu wanderte Flatleys Blick ständig zum Geschäft, statt dass er ihr in die Augen schaute.

      „Sie haben ja keine Ahnung“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nebenbei erwähnt: Heute nannten Sie mich unhöflich, weil ich Sie beim Reden nicht angesehen habe. Wie nennen Sie das, was Sie im Augenblick tun?“

      „Ausgleichende Gerechtigkeit“, blies auch er zum Angriff, konzentrierte sich jedoch unvermittelt auf sie. Die Intensität seiner blauen Augen verunsicherte Annie plötzlich und nun wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn er überall hingesehen hätte, nur nicht in ihr Gesicht.

      „Warum betrachten Sie ständig das Geschäft meines Großvaters?“,


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