Hinter verborgenen Pfaden. Kerstin Hornung

Hinter verborgenen Pfaden - Kerstin Hornung


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hatte Ähnlichkeit mit einer Ziegenzitze. Philip konnte sich nicht erinnern, dass seine Brüder je so etwas benötigt hätten.

      Lume’tai hielt offensichtlich auch nichts davon. Greinend drehte sie den Kopf zur Seite.

      »Ich hole meine Mutter«, sagte er, doch die stand bereits in der Tür. Ohne auf Philip zu achten, ging sie zu Jar’jana, legte ihre Hand an Lume’tais Kopf und spritzte ihr einen Tropfen Milch auf die Lippen. Als sie den Mund öffnete, schob sie den Sauger hinein.

      Das zufriedene Schmatzen ihres Kindes zauberte ein Lächeln auf Jar’janas Gesicht.

      Wenn Philip nicht sowieso schon Feuer und Flamme für dieses schöne Wesen gewesen wäre, spätestens jetzt wäre er ihr verfallen. Er merkte, dass er blöd grinste, war aber nicht in der Lage, damit aufzuhören oder sich abzuwenden.

      Erschrocken fuhr er zusammen, als seine Mutter ihn plötzlich am Arm packte.

      »Jetzt schafft sie es alleine«, sagte sie und drängte ihn zur Tür, da stürmte Johann seinen Geschwistern voran in den kleinen Raum.

      »Raus hier! Alle!«, befahl Phine, und ihr strenger Blick erstickte jeden Protest.

      Als alle Kinder bereits im Bett waren, saß Feodor am Tisch und rauchte seine Pfeife. Philip stand in der offenen Küchentür und starrte in die Nacht.

      »Wie geht es unserer Besucherin?«, fragte Feodor seine Frau, die soeben die Treppe herunterkam.

      Sie schnaubte. »Der Kleinen geht es erstaunlich gut. Obwohl ich wegen ihr die größeren Bedenken hatte. Sie hat heute sehr gut getrunken. Um ihre Mutter mache ich mir allerdings große Sorgen. Sie hat nach wie vor Fieber und keinen Appetit. Mit dem Stillen klappt es nicht, und sie ist vollkommen unbeholfen mit dem Kind. Manchmal habe dich den Eindruck, dass sie sich bereits aufgegeben hat. Zum Glück hat Elvira genug Milch für zwei Kinder.«

      »Ich habe gelesen, wo Pal’dor liegt«, warf Philip ein.

      »Aha«, erwiderte Phine.

      »Ich glaube, in weniger als vier bis fünf Stunden könnte man die Stadt erreichen.«

      »Dann hätte sie schon längst jemand gefunden«, gab Feodor zu bedenken.

      »Die Stadt ist verborgen, niemand kann sie finden, wenn er nicht weiß, wo er suchen muss«, antwortete Philip. »Jar’jana hat mich gebeten, dorthin zu gehen.« Er starrte zu Boden, um seine Mutter nicht ansehen zu müssen.

      »Wann?«, fragte Phine. Sie wirkte beunruhigt.

      »Heute Nachmittag«, antwortete er.

      »Was hat sie noch zu dir gesagt?«

      »Das hab ich nicht genau verstanden«, murmelte Philip. »Sie sprach von einer Prophezeiung, die sich erfüllt hat. Dass jemandem der Faden abgeschnitten wurde. Sie glaubte …« Er brach ab.

      »Was glaubte sie?«

      »Dass sie mich kennt.«

      »Aha«, hauchte Phine und zog die Augenbrauen zusammen. »Heute Nachmittag hatte sie hohes Fieber. Wir werden mit ihr sprechen, wenn sie weiß, wer vor ihr steht«, sagte sie entschieden.

      Philip hatte das Gefühl, dass ihm der Wind aus den Segeln genommen werden sollte.

      »Sie hat zu mir gesagt, ich soll für sie nach Pal’dor gehen«, beharrte er energisch. Dabei wich er dem Blick seiner Mutter aus und sah seinen Vater an. »Dort können sie ihr bestimmt helfen.«

      »Ich werde mit ihr darüber sprechen«, entschied Phine. »Jetzt sollten wir lieber über dein Studium im Monastirium Wilhelmus reden.«

      Philip straffte kampfbereit seine Schultern. Er hatte nicht vor, sich wegschicken zu lassen.

      »Es ist natürlich deine Entscheidung, ob du gehen willst oder nicht, aber ich hatte bisher immer den Eindruck, dass du das sehr gerne tun würdest«, sagte seine Mutter und erstickte damit seinen stillen Protest. »Du musst dich für uns nicht verantwortlich fühlen. Es ist immer noch die Pflicht der Eltern, für ihre Kinder zu sorgen, und solange wir das können, solltest du in erster Linie an dich denken. Es ist dein Leben. Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem du dich wirklich um uns kümmern musst, aber der ist noch fern.« Sie sah ihn eindringlich an.

      »Aber es ist viel zu teuer. Wie wollt ihr das bezahlen?«, stotterte Philip halbherzig.

      »Dafür ist schon lange gesorgt«, brummte sein Vater und sah dabei stur auf die zerkratzte Tischplatte.

      »… und euer Kind?«, fragte Philip weiter.

      »Unsere Kinder? So ein Unsinn. Jacob wird sich wahrscheinlich demnächst eine Lehrstelle suchen, und ich fürchte, im nächsten Jahr wird Johann ihm folgen. Unsere Kinder …«

      »Nein, das meine ich nicht«, unterbrach Philip seine Mutter. »Ich meine …« Auf einmal fehlten ihm die Worte, »du hast doch … beim Waschen … du sagtest … sieben, und ich dachte …«

      Jetzt verstand Phine, was er meinte, und schüttelte lächelnd den Kopf.

      »Nein. Du hast da was missverstanden. Es wird keine weiteren Geschwister geben.«

      »Du hast aber sicher sieben gesagt«, beharrte Philip.

      »Lumi, sie ist die Siebente. Jedes Kind, das unter diesem Dach lebt, ist auch mein Kind …« Ihre Stimme war nur ein Hauch, und sie lächelte schon wieder so eigenartig wie am Nachmittag. Feodor sah sie ernst an, er kannte diesen Ausdruck in ihren Augen. Er senkte seine Lider und starrte erneut auf die Tischplatte.

      Die Luft schien schon den ganzen Tag zu flimmern. Philip beschloss, sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

      »Wenn das so ist«, begann er nüchtern und beruhigte die flimmernde Luft, »dann muss ich nur noch dafür sorgen, dass Jar’jana und Lume’tai sicher in den Wald kommen. Wenn das geschehen ist, sprechen wir über Wilhelmus.«

      »Mit Jar’jana spreche ich«, betonte Phine energisch. »Morgen!« Damit stand sie auf und strich ihre Röcke gerade. »Ich geh jetzt ins Bett.«

      »Ich komme gleich nach«, sagte Feodor.

      »Du weißt nicht, worauf du dich einlässt«, warnte er Philip, sobald sie alleine waren. »Du warst noch nie so weit im Wald, du würdest dich verlaufen. Die Pfade, sofern es überhaupt welche gibt, sind tückisch. Es gibt keine verlässlichen Merkmale.« Feodor neigte nicht dazu, abergläubisch zu sein. Er war ein bodenständiger und vernünftiger Mensch, der auch auf das Gerede anderer Leute nicht viel gab. »Wenn du wirklich gehst, dann nimm jemanden mit, der sich auskennt.«

      »Willst du mitgehen?«

      »Und mir den Zorn deiner Mutter zuziehen?« Er grinste. »Sie hat recht, lass uns morgen noch mal darüber sprechen. Gute Nacht.«

      »Gute Nacht.« Philip war noch nicht müde. Sein Schläfchen am See war sehr erfrischend gewesen. Gedankenverloren starrte er in das Licht der flimmernden Kerze.

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