Der Monddiamant. Уилки Коллинз
Unterhaltungen des Professors zuzugesellen »In dem Kollegium der Wundärzte haben sie kürzlich einige wundervolle Skelette bekommen,« sagte Herr Candy mit lauter, munterer Stimme, »ich möchte dem Herrn Professor angelegentlichst empfehlen, verehrte Frau, sich in der ersten freien Stunde diese Skelette anzusehen.« Es entstand ein tiefes Schweigen. Die ganze Gesellschaft saß sprachlos da. Ich stand gerade hinter Mrs. Threadgall und schenkte ihr vertraulich ein Glas Rheinwein ein; sie senkte den Blick und sagte ganz leise: »Mein theurer Gatte ist nicht mehr!« Der unglückliche Herr Candy, der nichts gehört und keine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalt hatte, fuhr lauter und höflicher als zuvor über Tisch fort: »Der Herr Professor weiß vielleicht nicht, daß er vermöge einer Mitgliedskarte an jedem Tage, außer Sonntags, in den Stunden von Zehn bis Vier in’s Colleg gelangen kann.« Mrs. Treadgall ließ ihr Haupt aus die Brust sinken und wiederholte mit noch leiserer Stimme die Worte: »Mein theurer Gatte ist nicht mehr!« Ich winkte Herrn Candy über den Tisch, Fräulein Rachel stieß ihn an, Mylady warf ihm vielsagende Blicke zu. Alles vergebens. Mit einer unbefangenen Heiterkeit, die auf keine Weise zu hemmen war, fuhr er fort: »Ich werde dem Herrn Professor mit dem größten Vergnügen meine Karte schicken, wenn »Sie die Güte haben wollen, mir seine jetzige Adresse anzugeben.«
»Seine jetzige Adresse, Herr Candy, ist das Grab,« erwiderte Mrs. Threadgall, die nun plötzlich ihre Fassung völlig verlor und diese Worte so heftig und emphatisch ausrief, daß die Gläser davon erklangen. »Der Professor ist seit zehn Jahren todt!«
»Mein Gott!« rief Herr Candy erschrocken.
Mit Ausnahme der »Dragoner«, die in ein Lachen ausbrachen, befiel die ganze Gesellschaft ein stummer Schrecken. Die übrigen Gäste waren in ihrer Unterhaltung kaum minder verletzend als der Doktor. Wo sie hätten sprechen sollen, schwiegen sie, und wenn sie sprachen, so sagten sie etwas Ungeschicktes. Herr Godfrey, der bei öffentlichen Gelegenheiten eine so große Beredtsamkeit zu entfalten pflegte, schien durchaus abgeneigt, sich an einer allgemeineren Konversation zu betheiligen. Ob aus Verdruß oder aus Scham nach seiner Niederlage im Rosengarten, weiß ich nicht. Er verwandte seinen ganzen Unterhaltungsstoff auf die neben ihm sitzende Dame: sie gehörte zu seinen Comité-Damen und war eine kirchlich gesinnte Frau mit einer stattlichen Entfaltung des Busens und einer starken Liebhaberei für Champagner, den sie wohlverstanden ohne Schaum in reichlichem Maße genoß.«
Da ich auf meinen Posten am Büffet dicht hinter diesen Beiden stand, so kann ich nach dem, was ich von ihrer Unterhaltung hörte, versichern, daß der Gesellschaft ein sehr belehrendes Gespräch entging, daß nur mir zu Statten kam, während ich die Flaschen entkorkte, den Hammelbraten tranchierte u. s. w. Was sie über ihre mildthätigen Unternehmungen sprachen, konnte ich nicht hören. Als ich Zeit hatte, zuzuhören, waren sie längst von ihren armen Wöchnerinnen und ihren gefallenen Mädchen abgekommen und mit sehr ernsten Dingen beschäftigt. Religion, sagten sie, soviel ich zwischen dem Aufziehen der Pfropfen und dem Geräusch des Tranchiermessers hören konnte, bedeute Liebe, und Liebe bedeute Religion, und die Erde sei ein etwas abgetragener Himmel, und der Himmel sei die wieder wie neu ausgeputzte Erde. Auf Erden wandelten zwar einige nichts weniger als tadellose Menschen, aber dafür würden alle Frauen im Himmel Mitglieder eines ungeheuren nie uneinigen Comités sein, bei dem alle Männer den Damen als dienstbare Engel zugesellt sein würden. »Herrlich! herrlich!«
Aber weiß der Teufel, warum Herr Godfrey Alles für sich und seine Dame behielt! Dagegen aber höre ich den Leser sagen, bot Herr Franklin doch gewiß Alles auf, die Gesellschaft in eine heitere Stimmung zu versehen? Weit gefehlt! Er schien zwar seine Fassung völlig wiedererlangt zu haben und war in Folge von Penelope’s Mittheilung über Herrn Godfrey’s Aufnahme im Rosengarten sehr gut aufgelegt Aber was er auch heute sagen mochte, fast immer kam es auf eine Tactlosigkeit heraus, so daß er am Ende Einige beleidigt und Alle verlegen gemacht hatte. Seine ausländische Erziehung, jene französische, deutsche und italienische Seite, von denen ich schon früher gesprochen habe, äußerte sich am gastlichen Tische Myladys in einer höchst unliebsamen Weise.
Was soll man z. B. dazu sagen, wenn er über den Grad sprach, bis zu welchem sich die Bewunderung einer verheiratheten Frau für einen andern Mann als ihren Gatten versteigen dürfe und diese Bemerkungen in seiner witzigen, scharfsinnigen, französischen Manier an die unverehelichte Tante des Predigers von Frizinghall richtete? Oder wenn er dann wieder die deutsche Seite hervorkehrte und einem großen Gutsbesitzer, einer anerkannten Autorität auf dem Gebiete der Viehzüchtung, als dieser seine Erfahrungen über die Mittel zur Herstellung ausgezeichneter Ochsen mittheilte, entgegnete, daß, genau genommen, Erfahrung gar nichts nütze, und daß vielmehr das rechte Mittel, gute Ochsen zu züchten, das sei, sich in sich selber zu versenken, aus seinem Innern die Idee eines vollkommenen Ochsen zu entwickeln und ihn dann herzustellen? Oder was soll man endlich zu Folgendem sagen? Als beim Käse und Salat ein Mitglied unserer Grafschaft sich über die Verbreitung der Demokratie in England in folgenden heftigen Worten erging: »Wenn wir einmal die alten Stützen unserer Verfassung verlieren, was meinen Sie, Herr Blake, was wir da noch übrig behalten?« antwortete unser Freund, aus dem diesmal der Italiener sprach: »Wir würden dann noch drei Dinge übrig behalten: Liebe, Musik und Salat.« Er choquirte nicht nur durch Ausbrüche wie diese die ganze Gesellschaft, sondern er verlor auch, als er dann wieder die englische Seite seines Wesens hervorkehrte, seine ausländische Höflichkeit und sagte, als die Unterhaltung auf den ärztlichen Beruf kam, so bitter-satyrische Dinge über Ärzte, daß er den gutmüthigen kleinen Herrn Candy in eine wahre Wuth versetzte.
Der Streit zwischen ihnen entspann sich, als Herr Franklin, ich weiß nicht mehr in welcher Veranlassung, erklärte, daß er neuerdings sehr schlecht geschlafen habe.
Herr Candy bemerkte darauf, daß sein Nervensystem offenbar angegriffen sei, und daß er unverzüglich Etwas dagegen gebrauchen müsse.
Herr Franklin erwiderte, daß sich ärztlich behandeln lassen und im Dunkeln tappen für ihn ganz gleichbedeutende Dinge seien.
Herr Candy gab ihm den Hieb geschickt zurück und sagte, daß Herr Franklin selbst, medizinisch gesprochen, im Dunkeln umhertappe, um Schlaf zu suchen, und daß nur die Medizin ihm zu diesem verhelfen könne.
Herr Franklin, an dem jetzt wieder die Reihe war, einen Hieb zu führen, bemerkte, daß er oft habe sagen hören, ein Blinder könne einen Blinden führen, daß er aber jetzt zum ersten Mal den wahren Sinn dieses Wortes verstehe.
In dieser Weise ging das Scharmützel eine Weile fort, bis beide anfingen heftig zu werden, namentlich Herr Candy, der in der Vertheidigung seines Berufs die Herrschaft über sich selbst so völlig verlor, daß Mylady sich genöthigt sah, dazwischen zu treten und die Fortsetzung des Gesprächs zu untersagen. Dieser nothgedrungene Act der Autorität von Seiten der Hausfrau brachte die matt glimmende Flamme der Geister völlig zum Erlöschen. Hie und da flackerte noch ein kurzes Gespräch auf, wiewohl aber immer nur, um wenige Augenblicke kümmerlich zu glimmen. Der Dämon des Diamanten waltete über diesem Mittagessen und Jedermann fühlte sich erleichtert, als meine Herrin endlich die Tafel aufhob und den Damen das Zeichen gab, die Herren ihrem Weine zu überlassen.
Ich hatte eben die Krystallflaschen in einer Reihe vor dem alten Herrn Ablewhite aufgestellt, welcher den Hausherrn vertrat, als plötzlich ein Ton von der Terrasse herauf erklang, der mich völlig aus meiner Butler-Fassung brachte. Herr Franklin und ich sahen einander an; es war der Ton der indischen Trommel, so wahr ich lebe! Es waren die Jongleurs die zugleich mit dem Mondstein zu unserem Hause zurückkehrten!
Als sie im Begriff waren, sich an der Ecke der Terrasse aufzustellen, humpelte ich hinunter, um sie wegzuschicken; aber ein unglücklicher Zufall wollte, daß die beiden »Dragoner« mir zuvorkamen. Sie platzten in ihrem ungeduldigen Verlangen, die Indier ihre Künste produzieren zu sehen, auf die Terrasse los wie ein Paar Raketen. Die anderen Damen folgten ihnen; dann kamen auch die Herren hinzu. Ehe man sich’s versah, hatten die Spitzbuben angefangen ihre Begrüßungen zu machen, und waren die Dragoner damit beschäftigt, den hübschen kleinen Jungen zu liebkosen. Herr Franklin stellte sich an die eine Seite von Fräulein Rachel und ich postirte mich hinter sie. Wenn unser Argwohn begründet war, so präsentierte sie ohne Ahnung irgend einer Gefahr wie sie dastand den Diamanten an ihrer Brust den danach lüsternen Indiern! Was sie für Taschenspielerstücke und wie sie sie machten, kann ich nicht sagen.