Das Rubikon-Papier. Christoph Güsken
um so tragischer. Für Dramatik ist es zu spät.“
Der Hauptkommissar schob erneut ein Video ein. Dieses Mal warnte ein in die Jahre gekommener, abgeklärter Benno von Zabern in einem Interview vor Schwarzmalerei. Der Jahrhundertwinter, der in Nordeuropa Tausende von Opfern gefordert habe, mache jedoch auf eindrucksvolle und drastische Weise deutlich, dass es, was die Notwendigkeit von entschlossenen Gegenmaßnahmen betreffe, fünf vor zwölf sei.
Erst fünf vor, dann zwanzig nach, dann wieder fünf vor. Offenbar, dachte Andersen, ist seine Uhr manchmal vor- und machmal rückwärts gegangen. Ein Blick auf die eigene Uhr sagte ihm, dass der Feierabend nicht mehr weit war.
Er sah sich noch einmal die erste Cassette an, da sie einen späten Fernsehauftritt von Zaberns dokumentierte. Wie ein kurz nach dem Start eingeblendetes Datum verriet, war diese Aufzeichnung erst drei Wochen alt.
Außer der Moderatorin und von Zabern gab es noch drei andere Studiogäste: einen Sozialwissenschaftler der Wilhelmsuniversität Münster, einen Vertreter der Landesregierung und eine Umweltaktivistin der Regenwaldpiraten. Die Runde setzte sich über die Frage Ökologie in der Politik – kein Thema? auseinander. Andersen beobachtete von Zabern, der sich entspannt in seinen Sessel zurücklehnte und der Diskussion wie von weitem zu folgen schien, und wartete gespannt auf den Streit, der laut Nelli zwischen ihm und der Aktivistin entflammt war.
Leider erwies sich das Video als fehlerhaft. Sekunden bevor sich von Zabern in die Diskussion einmischte, versagte der Ton. Der Wissenschaftler gestikulierte, die Kamera zoomte ganz nahe an ihn heran. Von Zabern hatte ein rotes Gesicht und eine Ader an seiner Schläfe trat hervor. Der Uniprofessor neben ihm musterte ihn besorgt, geradezu perplex, dann begann die Gegenattacke der Umweltschützerin, die von Zabern mit verschränkten Armen, aber immer noch schwer atmend, über sich ergehen ließ.
Mit einem Ruck blieb das Videoband stecken. Das Bild verschwand.
„Na gut“, meinte Andersen und schaltete das Gerät aus. „Dann also Feierabend.“
***
Er hatte das Gefühl, wieder einen Nachmittag verschwendet zu haben. Trotz der ermüdenden Flut von Fernsehbildern konnte er sich immer noch keine rechte Vorstellung vom Ermordeten machen. Andersen brauchte sie aber, um ermitteln zu können. Darüberhinaus spielte es eine Rolle für ihn, ob das Mordopfer ihm sympathisch war. Nicht dass er seine Arbeit nur dann tun konnte, wenn das der Fall war. Es funktionierte auch, wenn er ihn unsympathisch fand. Doch die Frage, ob oder ob nicht, musste entschieden sein. Und was Dr. von Zabern betraf, so schien ein ganzer Berg Videocassetten nicht zu reichen, sie zu beantworten.
Dennoch, da war etwas, dessen Andersen erst im Nachhinein gewahr wurde. Ein kleiner Makel im ansonsten rundum makellos geschönten TV-Image des Wissenschaftlers. Der Hauptkommissar rief sich wieder die Szene ohne Ton in Erinnerung: Von Zabern mit hochrotem Kopf, gestikulierend. Wo war der smarte Moderator, der locker plaudernde Gesprächspartner, der niemals die Kontrolle verlor, so wie er sich in ausnahmslos allen anderen Fernsehmitschnitten präsentiert hatte? Was hatte von Zabern so erregt, dass er aus sich herausgegangen war?
Es konnte nicht schaden, wenn Andersen sich mit einem der Studiogäste unterhielt.
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