POLARLICHTER. Manfred G. Valtu

POLARLICHTER - Manfred G. Valtu


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Anna in Schwierigkeiten geraten und nicht (wovon er ausging) die Leiche sein sollte, dann gäbe es für die Wanze im Ohrstecker der Toten zwei Erklärungen: Entweder konnte Anna sich nicht melden und es war eine Botschaft an seine Abteilung, letztlich an ihn. Oder Anna wollte als tot erscheinen, um freie Bahn für weitere Nachforschungen beziehungsweise Aktionen zu haben. Ein nicht unübliches Vorgehen in der „Höhle des Löwen“.

      Am Wahrscheinlichsten war eine Kombination aus beiden Alternativen.

      Es ergaben sich zwei Schlussfolgerungen: Erstens musste die Identität der Toten geklärt, gegenüber den norwegischen Kollegen aber verschleiert werden. „Zweitens brauche ich die Wanze“, sagte er sich selbst.

      Es würde nicht einfach sein, den Kollegen auf der einen Seite hinzuhalten, andererseits aber Wanze und Leiche zu bekommen.

      Nachdem er sich eine Gesprächstaktik zurechtgelegt hatte, rief er mehrere Seiten mit Informationen über das System der norwegischen Polizei sowie des Rechtssystems auf.

      Nach einer Stunde intensiven Studiums sah er dem Gespräch mit Optimismus entgegen.

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      K A P I T E L 6

      Immer, wenn er den endlos scheinenden Gang betrat, ergriff ihn dieses Schaudern und Frösteln. Daran würde er sich wohl nie gewöhnen.

      Seit mehr als einem Jahr trat er zweimal wöchentlich seinen Kontrollgang im „Globalt Sikkerhetshvelv for frø på Svalbard“ (Weltweiter Saatgut-Tresor auf Svalbard) an. Und es war trotz der auf Spitzbergen herrschenden niedrigen Temperaturen immer wieder ein kleiner Schock, in das auf minus achtzehn Grad heruntergekühlte Gebäude zu kommen.

      Doch sein Frösteln rührte nicht etwa von dem Kälteschock her. Seine Dienstkleidung hielt die Kälte komplett ab. Es war wie immer die indifferente Angst, in dieser von Menschenhand geschaffenen unterirdischen Anlage gefangen zu sein.

      Und natürlich auch die Angst vor Entdeckung.

      Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Er, honoriger promovierter Master Of Science mit den Fachgebieten 'Advanced Materials', 'Biological Recognition', Molecular Sciences' und 'Medicinal and Industrial Pharmaceutical Sciences' hatte nie etwas anderes gewollt, als wissenschaftlich zum Nutzen der Menschheit zu forschen. Er wollte mithelfen, die trotz Nahrungsüberfluss vorhandene ungleiche Verteilung und die damit verbundenen Hungerkatastrophen zu beseitigen.

      Ein hehrer Ansatz.

      Master Sc. Sven Johansson schüttelte den Kopf, nahm kurz die Fellmütze ab und fuhr sich mit der behandschuhten Hand durch sein schütteres Haar. Was war hingegen aus ihm geworden? Ein Verräter an der Sache, ein Krimineller! Und an allem war sie schuld! Sie!

      Schon immer war er ein Außenseiter gewesen. Zu seiner von Mitschülern und Mitschülerinnen und später auch von Kommilitonen und -innen verspotteten intensiven Neigung zu den Naturwissenschaften der Biologie und Chemie kam noch sein völlig nichtssagendes Äußeres hinzu. Er war immer Jahrgangskleinster gewesen, auch heute maß er nicht mehr als ein Meter fünfundsechzig. Seine fahle Hautfarbe war immer noch mit Sommersprossen übersäht und das linke Bein war etwa eineinhalb Zentimeter kürzer als das rechte.

       „Haltande spöke“ hatten sie ihm wegen seines leichten Hinkens und seiner gespensterartigen Blässe hinterher gerufen. Sogar seine Eltern hatten diese Worte ab und zu gewählt, wenn sie sich über ihn geärgert hatten.

      Vor diesem Hintergrund ohne Freunde, ja ohne jegliche soziale Kontakte, zog er sich ganz auf sich und seine Studien der Natur zurück. Nach dem Abitur studierte er mit hundertprozentigem Einsatz und wurde auf seinem Gebiet zu einem international angesehenen Spezialisten. So versuchten die unterschiedlichsten Organisationen, sich seiner Mitarbeit zu versichern. Doch er wollte eigentlich in Schweden, in seinem geliebten Uppsala bleiben.

      Leider sah sich die Universität der Stadt außer Stande, ihm ein angemessenes Salär zu bezahlen. So war er dem Ruf der Universität von Oslo gefolgt, obwohl das die Trennung von der einzigen Frau, die ihm bis dahin etwas bedeutete, mit sich brachte. Nicht etwa, dass er es gewagt hätte, an eine Liebesbeziehung mit der scheuen Åsa Krusenstiern zu denken. Aber sie stimmten in vielen Dingen überein und sie war in seinem Single-Dasein der einzige Bezugspunkt gewesen. Immerhin waren sie über E-Mails und Postkarten sowie gelegentliche Telefonate in Kontakt geblieben.

      Das hatte sich geändert. Zunächst nahmen an dem Forschungsauftrag zur Frage der globalen Ernährungssicherung noch drei Kollegen mit ihren jeweiligen Fachrichtungen neben seiner eigenen teil.

      Einer der Kollegen brachte eines Tages eine Assistentin mit. Eine wunderschöne, attraktive Frau, die dem Leiter des Projekts Sorgenfalten auf die Stirn trieb, da er um die Konzentration der rein männlichen Mitglieder des Forschungsteams auf ihre Aufgaben fürchtete. Zu recht, wie sich herausstellte. Es begann ein regelrechter Hahnenkampf um die Gunst der Dame, an dem er sich, obwohl auch ihm ihre Reize durchaus bewusst waren, nicht beteiligte. Doch er ertappte sich hin und wieder dabei, dass er sie verstohlen beobachtete und dabei die Arbeit vernachlässigte. Und es geschah zunehmend, dass sie immer öfter zurückblickte und dabei – wie es ihm schien – aufmunternd zulächelte.

      Das konnte so nicht weitergehen. Er wollte sich durch nichts von seinem Forschungsvorhaben ablenken lassen. Wie ein Wink des Schicksals geriet ihm eine Stellenausschreibung in die Finger. Für die wissenschaftliche Begleitung, Untersuchung, Zusammenstellung, Fortentwicklung und Katalogisierung der Saatgüter im Saatgut-Tresor auf Spitzbergen wurde ein Fachmann gesucht. „So eine Art Kurator wie im Museum“ hatte eines der Gremiumsmitglieder sehr unwissenschaftlich gemeint.

      Zwar wurde dort keine Grundlagenforschung betrieben und er hatte sich sein Leben anders, als in einer kalten Einöde zu leben und zu arbeiten vorgestellt. Jedoch war es eine seiner Ausbildung adäquate und viel besser als an der Uni Oslo vergütete Stellung – und er kam von der ihn seelisch ziemlich aus der Bahn werfenden Nähe zu Gisa Malmström weg.

      Nach seinem Umzug und ein paar Wochen der Einarbeitung musste er feststellen, dass er zum überwiegenden Teil Büroarbeit zu leisten hatte.

      Das lag ihm überhaupt nicht. Und sie hielt ihn von dem ab, was er sich nach dem Inhalt der Stellenausschreibung vorgestellt hatte: Vom Forschen und Weiterentwickeln der Saatgüter.

      Entgegen seiner Befürchtung wurde seinem Wunsch, ihm einen Sekretär oder eine Sekretärin für die Büroarbeit zur Verfügung zu stellen, widerspruchslos stattgegeben. Nach vier Wochen Ausschreibung hatte man eine geeignete Kollegin gefunden.

      Und als er eines Morgens das Gebäude, in dem sein Büro lag, betrat, saß im Vorzimmer seine neue Sekretärin: Gisa Malmström.

      Eines Tages, als sie allein im Labor waren, fragte sie ihn, ob sie den Aspekt der biologischen Diversifikation genmanipulierter Sojakeime nicht bei einem kleinen Imbiss besprechen könnten. Obwohl er über diese völlig unwissenschaftliche Aneinanderreihung von Begriffen innerlich hatte grinsen müssen, überwand er seine extreme antrainierte Zurückhaltung und willigte ein.

      „Verflucht sei dieser Tag“, dachte er laut, um sich gleich erschrocken umzusehen. Aber er war allein.

      Er hatte es kaum glauben können, aber in den Folgetagen wurde es ihm zur Gewissheit: Sie hatte sich in ihn verliebt – und er erwiderte dieses Gefühl. Er und Gisa wurden ein Paar und nach nur vier Monaten heirateten sie.

      Schon in den nur eine Woche dauernden „Flitterwochen“ begann sie, an ihm herum zu mäkeln. „Du lässt dich ausnutzen, du könntest viel mehr verdienen, ich will doch nicht in diesem Kaff versauern, ich will in die Hauptstadt, ins Theater, ins Konzert, Tanzen gehen ...“, eine endlose Litanei. Seine Einwände, er müsse das aufgelegte Programm zu Ende führen, tat sie ab.

      Und bald wurde das Geld knapp. Völlig unsinnige Bestellungen von Luxuskleidung, Schmuck und luxuriösen Einrichtungsgegenständen sowie ihre teuren 'Ausflüge' aufs Festland, dort nach Oslo, Bergen und Trondheim, fraßen sein Einkommen auf. Irgendwann hatte er ihr vorgeschlagen, sich zu trennen. Doch sie hatte ihn nur ausgelacht


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