PUNKTUM.. Wolfgang Priedl

PUNKTUM. - Wolfgang Priedl


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nur ein Sterbenswörtchen mir gegenüber zu erwähnen, spukt es ihr durch den Kopf.

      In Anna steigt leiser Groll auf. Sie sieht sich weiter um. Auf dem kleinen Beistelltisch findet sie Prospekte von den umliegenden Supermärkten. Jeder reklamiert die günstigsten Preise für sich. Noch billiger kommt man mit den jeweiligen Rabattmarken davon. So groß die ausgelobten Verkaufspreise der diversen Artikel auch gedruckt sind, um die zeitliche Beschränkung der Sonderangebote entziffern zu können, bedarf es hingegen Spürsinn und einer übergroßen Lupe.

      Anna sucht weiter. Im Seitenteil des Kastens entdeckt sie – von einem Stapel Pullover verdeckt -, einen Karton. Sie legt die Kleidungsstücke auf das Bett und zieht die große Schachtel hervor.

      Sie setzt sich auf das Bett und hebt den Deckel ab. Fotos. Haufenweise Fotos.

      Anna greift hinein und krallt sich einen Packen. Es sind Bilder aus Annas Jugend. Sie findet eines, als sie mit ihrer Mutter in Cinque Terre, mit seinen bunten Häusern, besucht hatte. Ein anderes zeigt sie vor dem Eiffelturm, gefolgt von einer Reihe Strandfotos, Badeurlaube am Meer, Wanderausflüge und dergleichen. Hin und wieder huscht ein Lächeln über ihre Lippen. Anna versinkt in den Erinnerungen von damals. Greift nach einem weiteren Stapel. Schlussendlich leert sie den Karton gänzlich.

      Was würde meine Mutter jetzt sagen, wenn sie dieses Durcheinander auf ihrem Bett sähe, fragt sich Anna.

      Ein Foto, das ihre Mutter mit einem Hochzeitspaar, und einem ihr unbekannten Mann zeigt, erregt Annas Aufmerksamkeit. Auf der Rückseite steht ein Kalendertag und handschriftlich: ›Brautpaar mit Trauzeugen‹. Das war vor meiner Geburt, stellt sie fest, als sie das Datum überprüft. Ein Weiteres zeigt ihre Mutter mit einem Mann. Südländischer Typus, durchtrainiert, mit dunklen, langen Haaren. Auf der Rückseite: Trauzeugen.

      Anna fragt sich, wo das Dirndl, das Maria auf dem Foto trägt, wohl geblieben war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es je in ihrem Schrank gesehen zu haben. Jedenfalls hat sie in diesem Kleid ungemein sexy ausgesehen. So viel Mut hat sie ihrer Mutter nicht zugetraut. Vielleicht gehörte ihr das Dirndl gar nicht, sondern sie hatte es sie sich für die Trachtenhochzeit nur geliehen.

      Anna steht mit dem Foto in der Hand auf und betrachtet sich im Spiegel, der an der Innenseite der Tür angebracht ist. Ihr fällt auf, wie ähnlich sie ihrer Mutter, in ihrem Alter, sieht. Selbst die kleinen Grübchen an ihren Wagen scheinen ident zu sein. Auch die wenigen Sommersprossen befinden sich an den gleichen Stellen. Sie vergleicht die Nase, die Mundpartie und ihren Oberkörper. Sie findet keinen wesentlichen Unterschied. Was hatte Birgit heute im Kaffeehaus gemeint? ›Wäre nicht der Altersunterschied, dann hätte man sie und ihre Mutter für Zwillinge gehalten‹. Anna schmunzelt. Sie hat nicht nur viel vom Aussehen ihrer Mutter geerbt, sondern auch viel von ihrem Wesen.

      Sie schiebt die Fotos mit der flachen Hand zusammen und lässt sie über die Bettkante zurück in die Schachtel fallen. Sie nimmt den Karton, stemmt ihn hoch und will ihn auf seinen Platz zurückschieben. Doch irgendetwas scheint sich zu spießen. Anna greift mit ihrer Hand nach oben ins Fach, tastet den Boden ab und findet einen orangefarbenen Umschlag. Anschließend hüpft sie in die Höhe, um den restlichen Fachboden sehen zu können. Sie erkennt eine kleine, flache Plastikschachtel und ein Fläschchen, stellt sich auf die Zehenspitzen und angelt sich die beiden Dinge.

      Neugierig öffnet sie die kleine, luftdicht verschlossene Schachtel und findet darin ein fein säuberlich zusammengefaltetes, dunkelblaues Halstuch. Ein herber, angenehmer, aber schwacher Geruch verbreitet sich. Sie presst das Tuch auf ihre Nase. Eindeutig ein Herrenparfüm. Ihr empfindlicher Geruchssinn erkennt: Amber, Baummoos, Moschus, und Sandelholz. Das ist kein Duft, den ihre Mutter selbst getragen hat oder trägt. Anna faltet das Tuch wieder, legt es fein säuberlich in die Schachtel zurück und drückt den Deckel auf.

      Auf dem Fläschchen klebt ein neutrales Etikett, auf dem handschriftlich das Wort: KETAMIN zu lesen ist. Sie hält es gegen das Licht und schüttelt es. Die kleine Flasche ist prall gefüllt, bis hin zum oberen Rand.

      Anna überlegt: KETAMIN, das Wort kommt ihr bekannt vor. Sie ist sich sicher, es schon einmal gehört zu haben. Nur in welchem Zusammenhang? Jedenfalls ist das kein Medikament, denkt sie. Wäre es eines, dann würde es ihre Mutter im Arzneischrank aufbewahren.

      Anna nimmt das Kuvert zur Hand. Es ist verschlossen. Der obere Rand ist fein säuberlich verklebt. Auf dem Umschlag befindet sich ein Stempel ihrer Firma. Daneben der händische Vermerk: Birgit Santora / Ergebnis: Spektralanalyse / DNA-Analyse.

      Anna ist verwirrt. Sie fragt sich, ob sie das Kuvert öffnen soll? Nein, keinesfalls, denkt sie. Es wird seinen Grund haben, warum es verschlossen ist. Ein Zeichen, dass selbst ihre Mutter keinen direkten Zugriff auf den Inhalt haben will. Außerdem scheint es Birgit zu gehören, schließlich steht ihr Name darauf. Vielleicht bewahrt sie das Kuvert für ihre Freundin auf. Sorgsam legt Anna alles wieder an seinen Platz zurück.

      Wo könnte sie noch nachsehen, um einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Mutter zu finden? Sie ist ratlos.

      OK, eines ist klar: Wie sie von Birgit erfahren hat, ist ihre Mutter derzeit auf Kurzurlaub. Hat sie ja schon öfter gemacht. Mit einem Joseph. Sie muss wohlauf sein, denn wenn sie einen Unfall erlitten haben, oder in einer Klemme stecken, dann hätte sie sich längst bei ihr gemeldet. Der Gedanke gefiel ihr. Damit lassen sich ihre Sorgen – für den Augenblick – besänftigen.

      Anna läuft die Treppe nach unten, in die Garage, um zu überprüfen, ob der funkelnagelneue Audi A1 ihrer Mutter auf seinem Parkplatz steht. Der Wagen fehlt.

      Sie greift zum Telefon. Weder verpasste Anrufe, noch Kurznachrichten werden angezeigt.

      Sie versucht nochmals, ihre Mutter zu erreichen. Sie wird direkt in die Mailbox weitergeleitet. Bevor sie nach der obligaten Ansage den Piepton hören würde, unterbricht sie bereits die Verbindung.

      Anna schüttelt ihren Kopf und ruft als nächstes Claudia an.

      »Bigler?«

      »Hallo. Können wir uns abends treffen?«, fragt sie ihre Freundin bedrückt.

      »Kann ich dir noch nicht sagen. Sitze hier auf der Terrasse, mit einem netten Bekannten, inmitten der Berge. Blicke auf einen smaragdgrünen See. Hier lässt es sich aushalten. Wir sollten einmal ein Wochenende hier verbringen.«

      »Schade – Melde dich, wenn du zurück bist. Brauche jemanden zum … « Ihre Freundin hat das Gespräch bereits unterbrochen. Anna schüttelt den Kopf und steckt verwundert das Mobiltelefon in ihre Tasche.

      6

      Bei Selbstmord würde eine einfache Bestandsaufnahme genügen, für Mord oder Unfall gibt es noch nicht viele Anhaltspunkte, aber die Möglichkeit besteht, überlegt Peter. Zunächst muss die Identität geklärt werden und er soll hinauf zur Aussichtsplattform. Der Kriminalist ist nicht erfreut über diesen Umstand.

      Er blickt hinüber zu Claudia, die in der Nähe des Bootssteges steht und fotografiert.

      »Ich muss zum Seeblick hinauf. Sehe ich dich nachher?!«, ruft er Claudia zu.

      Sie kommt näher und antwortet mit einem verschmitzten Lächeln auf ihren Lippen: »Selbstverständlich. Du musst mir ja meinen Artikel freigeben. Aber, eine Frage: Darf ich dich begleiten, dir über die Schulter schauen?«

      »Äh, das geht nicht. Hier wird ermittelt. Da sind Privatpersonen leider nicht zugelassen … «

      »Aber nicht am Weg hinauf. Sieh nur, das Absperrband ist schon entfernt worden. Peter bitte, von da oben hat man sicherlich einen wunderschönen Blick auf den See. Ich könnte atemberaubende Fotos schießen. Lass mich dich … «, bettelt Claudia unabweisbar.

      »… Na gut, aber bestenfalls nur über die Schulter sehen. Nichts angreifen«, lässt sich Holzinger breitschlagen.

      Schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass Claudias Schuhwerk nicht die beste Wahl für so einen steilen Aufstieg ist. Sie hat Mühe, Peter zu folgen. Doch der Kommissar erweist sich als Gentleman der alten Schule. Immer wieder hält er


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