Sündenrächer. Frank Esser

Sündenrächer - Frank Esser


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hatte er sich geirrt. Neumann machte den Ton an seinem TV-Gerät wieder lauter und widmete sich aufs Neue der Sportsendung. In der ersten Werbepause brachte er das schmutzige Geschirr in die Küche. Im Flur stutzte er kurz. Er hätte schwören können, dass er die Küchentür vorhin geschlossen hatte. Aber vielleicht hatte er sich auch nur geirrt. Er wurde langsam vergesslich, wie er sich eingestehen musste. Als er die Küche betrat, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Dann spürte er auch schon einen heftigen Schlag auf seinem Hinterkopf. Jäh wurde es dunkel um ihn herum.

      Langsam kämpfte sich sein Bewusstsein wieder an die Oberfläche. Nur schemenhaft nahm er durch die flatternden Augenlider wahr, wo er sich befand. Er saß mitten in seinem Wohnzimmer. Sein Schädel schmerzte fürchterlich. Diverse Fragen schossen ihm durch den Kopf. Wie lange war er bewusstlos gewesen? Und was war überhaupt passiert? War er von einem Einbrecher niedergeschlagen worden? Erst jetzt bemerkte er, dass er an einen Stuhl gefesselt war. Mit Kabelbindern. Er spannte die Muskeln an und versuchte, an den Fesseln zu rütteln. Vergeblich, er war absolut bewegungsunfähig. Sein Mund war mit Klebeband zugeklebt. Und sein Oberkörper war nackt. Die Rollläden waren heruntergelassen. Nur die Leselampe neben der Couch spendete spärliches Licht. Und er war nicht allein. In seinem Fernsehsessel, etwa zwei Meter von ihm entfernt, saß ein Mann. Nicht älter als dreißig Jahre, schätzte er. Übergewichtig und irgendwie unscheinbar. Er hatte ihn noch nie gesehen. Der Fremde saß einfach nur da und beobachtete ihn. Nach schier endlosen Sekunden stand er langsam auf und kam einen Schritt auf ihn zu. Ihm fiel auf, dass der Eindringling nicht maskiert war. Auch wenn er den Mann nicht kannte, er würde ihn beschreiben und der Polizei genaue Angaben machen können. Kein gutes Zeichen. Neumann geriet allmählich in Panik. Er war kein reicher Mann. Das wenige Geld, das er angespart hatte, konnte den Unbekannten wohl kaum ernsthaft interessieren. Eine beängstigende Stille lag in dem Raum. Was immer der Eindringling von ihm wollte, er sagte kein Wort. Er stand einfach nur da und starrte ihn an. Es war offensichtlich, dass er seine Angst genoss. Dann nestelte der Mann plötzlich an seiner Hosentasche, holte ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug hervor und zündete sich eine Kippe an. Genüsslich zog er zweimal daran. Die Zigarettenpackung verschwand wieder in seiner Hosentasche. Das Zippo hielt er weiterhin in der Hand. Dann machte der Einbrecher einen Schritt auf ihn zu, beugte sich zu ihm herunter und blies ihm den Zigarettenrauch mitten ins Gesicht. Dabei lächelte er ihn an. Ein eiskalter Schauer lief Neumann über den Rücken. Noch einmal zog der Unbekannte genüsslich an seiner Zigarette und ohne Vorwarnung drückte er dann die glühende Zigarettenkippe ganz langsam auf dem Handrücken der rechten Hand aus, die an die Stuhllehne gebunden war. Ein wahnsinnig stechender Schmerz durchfuhr Neumann. Das Klebeband auf seinem Mund verhinderte, dass sein kehliger Schrei außerhalb des Wohnzimmers zu vernehmen war. Erst langsam klang der Schmerz ab und ging über in ein dumpfes, brennendes Gefühl. Aber viel Zeit zum Verschnaufen blieb ihm nicht, denn der Unbekannte hatte die Zigarette schon wieder angezündet und setzte erneut an, sie auf seiner Haut auszudrücken. Diesmal war es der Handrücken der linken Hand. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrere Male, nun auch auf dem entblößten Oberkörper. Sobald eine Kippe abgebrannt war, zündete er schon die nächste an. Die Schmerzen, die Herbert Neumann auszuhalten hatte, waren unerträglich. Aber sein Peiniger kannte keine Gnade. Erst nach der vierten Zigarette hatte diese Tortur ein Ende. Noch ehe er gänzlich das Bewusstsein verlor, traf ihn ein harter Schlag mitten ins Gesicht. Die Nase brach mit einem lauten Knacken, Blut lief heraus und tropfte auf seinen nackten, geschundenen Oberkörper.

      »Es wird nicht geschlafen, Neumann. Du sollst schließlich genießen können, was hier mit dir passiert«, verhöhnte ihn der Mann auf einmal.

      Er versuchte zu antworten, aber wegen des zugeklebten Mundes kamen nur undefinierbare Laute über seine Lippen.

      »Wirst du um Hilfe schreien, wenn ich das Klebeband entferne?« Herbert Neumann schüttelte den Kopf. »Also gut. Ich reiß es jetzt ab. Aber ich warne dich. Ein Mucks von dir und es knallt.«

      Keine Sekunde später riss der Unbekannte ihm das Panzerband mit einer fließenden Bewegung vom Mund. Neumann schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land. Schreien war ohnehin sinnlos, hier hörte sie niemand.

      »Ich gebe Ihnen mein ganzes Geld, aber bitte hören Sie mit dieser Quälerei auf«, war das Erste, was Neumann flehend von sich gab.

      Der Mann verfiel sogleich in ein langes, herzhaftes Lachen. »Du glaubst also ernsthaft, dass ich das hier wegen Kohle mache?«

      Genau solch eine Antwort hatte Neumann befürchtet. Das, was hier mit ihm geschah, war geplant und nicht einfach nur spontane Willkür. Wie sollte er nur aus dieser Situation wieder herauskommen? Er setzte alles auf die Fortsetzung des Gesprächs. »Was wollen Sie dann?«

      »Genugtuung.«

      »Genugtuung wofür?« Neumann starrte ihn irritiert an.

      »Für das Unrecht, das du mir und anderen Menschen vor langer Zeit angetan hast.«

      »Ich kenne Sie doch nicht einmal. Das muss eine Verwechslung sein!«

      »Oh nein. Ganz sicherlich nicht. Aber um deine Erinnerung aufzufrischen, habe ich hier etwas für dich.« Der Mann nestelte kurz an seiner Jackentasche. Dann warf er einen Gegenstand auf Neumanns Schoß. »Bist du nun immer noch davon überzeugt, dass wir uns nicht kennen?«

      Er erkannte sofort, worum es sich handelte. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie der Unbekannte in Besitz der Marke gelangt war. Sie lag doch seit Jahren unberührt in einer Schublade seines Schreibtisches im Arbeitszimmer! »Ich verstehe immer noch nicht, was das mit Ihnen zu tun haben soll? Das ist ein Relikt aus einer anderen Zeit.«

      »Da hast du nicht ganz unrecht. Aber ich bin nicht hier, um zu plaudern. Schließlich habe ich heute Abend noch einiges mit dir vor.« Bevor Neumann antworten konnte, hatte der Mann ihm schon wieder den Mund zugeklebt. »Ich möchte nicht, dass du gleich die Nachbarschaft zusammenschreist«, bemerkte der Eindringling zynisch.

      Dann holte er einen Hammer aus einer Sporttasche heraus, die zu seinen Füßen auf dem Boden stand. Nur einen kurzen Augenblick später sah Neumann mit aufgerissenen Augen, wie der Unbekannte mit dem Hammer zum Schlag ausholte und er spürte, wie die Kniescheibe seines rechten Beins brach. Beinahe wäre er vor Schmerz in Ohnmacht gefallen. Aber sein Peiniger hatte vorgesorgt. Ehe er kollabierte, hielt der Mann ihm ein Fläschchen Riechsalz unter die Nase. Statt in die Tiefen der Bewusstlosigkeit abzutauchen, war er wieder hellwach und musste zusehen, wie sich sein rechtes Hosenbein dunkelrot färbte. Dann wurde ihm die Kniescheibe des linken Beins zertrümmert. Anschließend das rechte und linke Handgelenk. Eine Schmerztsunami jagte den nächsten. Immer, wenn er drohte, bewusstlos zu werden, holte ihn der Unbekannte ins Hier und Jetzt zurück. Selbst wenn der Fremde ihn am Leben lassen würde, wovon er nicht ausging, würde er seinen Lebensabend wohl als Krüppel im Rollstuhl verbringen müssen, dachte er. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was ihm lieber gewesen wäre. Wenn er doch nur gewusst hätte, warum man ihm all das hier antat? Aber was auch immer der Grund des Überfalls war, das hatte niemand verdient! Und er ganz bestimmt nicht!

      »Na, tut´s weh?«

      Der Mann sah ihn höhnisch an. Neumann reagierte nicht, stöhnte nur vor Schmerz. Sein Kinn war auf seine nackte Brust gesunken. Plötzlich riss ihm sein Peiniger erneut das Klebeband vom Mund und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

      »Ich habe dich was gefragt!« Seine Stimme war jetzt voller Hass.

      Aber mehr als ein leise gehauchtes »Ja, es tut schrecklich weh«, brachte Neumann nicht hervor.

      »Das sollte es auch! Du sollst spüren, was es heißt, zu leiden!« An der Art, wie der Mann das sagte, erkannte Neumann, dass sein Martyrium noch lange nicht zu Ende war. »Und das Beste ist, wenn man glaubt, dass es gar nicht mehr schlimmer werden kann, hat man sich meistens getäuscht«, fügte sein Peiniger hinzu, so als ob er seine Gedanken lesen konnte. »Hast du vielleicht noch irgendetwas zu sagen, bevor wir weitermachen?«

      Neumann nahm seine ganze Kraft zusammen, um zu antworten. »Ich will eigentlich nur wissen, warum Sie mir das alles hier antun?«, brachte er mühselig heraus.

      »Darauf musst du schon alleine kommen. Aber ich werde dir einen Hinweis geben.« Dann holte der Mann ein


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