Fördegeheimnisse. Karl-Heinz Biermann
einen Spalt nur, und schlang sich wieder um seinen Hals, zog seinen Kopf zu sich heran und küsste ihn lange, bis sie erneut voneinander ließen. Der Mann drückte sich durch die Enge der Türöffnung, winkte zum Abschied kurz mit der Hand, dann verschwand er in der Nacht.
Die Frau schob die Tür zu, verriegelte sie und stand noch eine Weile, als sei sie in Gedanken versunken, bis sie sich abwandte und die Treppe zum oberen Stockwerk hochstieg.
Derweilen erreichte der junge Mann in der absoluten Dunkelheit den Zaun, der das große Gelände des Gartens säumte, seine Orientierung führte ihn ohne Mühe dorthin, auf den abgeschiedenen Weg hinaus, den er so oft gegangen war. Bald hatte er die Stelle gefunden, an der das Gitter zu überwinden war, am immer selben Ort, und auch die Überwachungskamera wusste er in der Nähe installiert, doch er wusste auch, dass sie für ihn keine Relevanz hatte. Hanna würde sie für diesen Moment deaktiviert haben, wenn er das Gitter erklomm, was er auch gleich tat, leise, ohne Hektik. Auf der anderen Seite des Zauns ließ er sich herab; in der Schwärze der Nacht spürte er seine Füße den Boden berühren und wandte sich dann um, auf den ihm nur allzu gut bekannten Pfad zum Uferweg hinunter.
Der Schlag aus dem Nichts traf ihn frontal. Erstaunt nahm der junge Mann wahr, dass die Dunkelheit vor ihm den Weg versperrte, ihn nicht weitergehen lassen wollte, als sei er vor eine unsichtbare Wand gelaufen. Aber dann spürte er Schmerz, und als Nächstes bemerkte er feuchtes Laub in seinem Gesicht und die Dunkelheit der Nacht wurde noch schwärzer, und dann spürte er gar nichts mehr.
3
„Wo, sagten Sie, hat man ihn gefunden?“ Kommissar Brandts Frage ging an den dabeistehenden Rechtsmediziner, ohne dass sein Blick von der Leiche eines jungen Mannes auf dem Obduktionstisch ließ.
„Am Strand von Friedrichsort, am gestrigen Abend“, kam die Antwort. „Die Beamten der Dienststelle Holtenau haben sich darum gekümmert.“
„Die Wasserschutzpolizei?“
„Es war schon spät, man wollte wohl die Kripo um diese Zeit nicht mehr heranziehen“, bemühte sich der Rechtsmediziner um eine Erklärung. „Außerdem haben die im Fall einer Wasserleiche das gleiche Recht, sich darum zu kümmern …“
„Ja, ja, schon gut“, wiegelte der Kommissar ab, „ich hoffe nur, die haben sich auch um die Spuren gekümmert.“
„Haben die, das Protokoll der Kollegen von der
Spurensicherung ist bereits fertig, ich muss nur noch meinen Bericht hinzufügen.“ Die Gestik des Rechts-mediziners sollte dem Kommissar mitteilen, dass er die Obduktion beenden wollte.
„Wer sagt denn überhaupt, dass der da übers Wasser gekommen ist?“
„Wasser in der Lunge.“
„Also ertrunken.“
„Ich würde eher sagen, er ist erschlagen worden. Von einem Gegenstand getroffen, hier, sehen Sie.“ Der Rechtsmediziner wies auf das Gesicht des Toten.
Kommissar Brandt zog seinen Mund breit, für den Obduzierenden ein bekanntes Merkmal seines Unmuts, da er es mit dem Beamten von der Kieler Kripo nicht zum ersten Mal zu tun hatte.
„Das heißt noch nicht, dass er sofort tot war“, fügte er gleich an.
Der Kommissar schickte sich an, aus dem Raum hinauszugehen, der ihm jedes Mal ein Gefühl eisiger Kälte bereitete. „Dann kann er genauso gut durch einen Unfall umgekommen sein, meinetwegen auf einem Segelboot, vom Baum getroffen und dann ab über Bord. Passiert diesen Freizeitkapitänen oft“, sagte er mit einem geringschätzigen Blick zur Leiche hin.
„Also war es richtig, dass sich die Wasserschutz-polizei eingeschaltet hat!“
Kommissar Brandt hörte den Ruf des Rechtsmediziners, da war er schon draußen auf dem Flur. „Von mir aus“, grantelte er.
Am nächsten Morgen durchsuchte er gleich als Erstes in seinem Büro den Computer nach der Aktendatei der Rechtsmedizin, und wider Erwarten sah er sich ab sofort mit dem Fall des am Strand von Friedrichsort aufgefundenen Toten befasst; der Bericht wies eindeutig auf eine Fremdeinwirkung hin, die zum Tod des jungen Mannes geführt habe.
Also doch Mord, dachte der Kommissar, oder zumindest Totschlag. Er musste es herausfinden, das war seine Arbeit hier im Kieler Polizeipräsidium, Abteilung Kapitaldelikte. Eigentlich war er Erster Kriminalhauptkommissar, reich an Dienstjahren und zur Zeit der einzige mit diesem Rang, nur der Dezernatsleiter stand über ihn. Er fand es nicht brüskierend, wenn man ihn, wahrscheinlich wegen der Kürze, nur mit Kommissar ansprach, auch von den rangniedrigeren Kollegen war es gewohnt, dass sie es so sagten. Nur von diesen
Kriminalmeistern und Ober- und Hauptmeistern konnte ihm in der nächsten Zeit keiner zur Seite gestellt werden, sie alle steckten selbst in Fällen fest; er würde sich also allein dieser Akte annehmen müssen.
Er entnahm ihr, dass dem Opfer mit einem stumpfen Gegenstand der Schädel eingeschlagen worden war, von vorn und mit großer Wucht, aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Baseballschläger. Dann suchte der Kommissar nach der Datei der Spurensicherung, die nach Angabe des Rechtsmediziners bereits vorliegen sollte, und er bemängelte wieder einmal die nicht zeitgleiche Zusammenarbeit der beiden Institutionen.
Warum gab es nicht eine einzige Akte, in der alles zusammengefasst war, warum musste er mit der Maus im Computerprogramm rauf und runter scrollen und umständlich danach suchen? Er schüttelte mit dem Kopf.
Doch dann merkte er auf, als die Datei der Spuren-sicherung endlich vor seine Augen kam, und er las interessiert, dass die Kollegen zu der Erkenntnis gekommen waren, dass die Wasserströmung das Opfer zum Zeitpunkt seines Todes von woanders her an die schmalste Stelle der Kieler Förde, den Fundort in Friedrichsort, getrieben haben musste; es seien einige Blätter unter seiner Kleidung gefunden worden, Laub von Bäumen und zwar von einer exotischen Art, die in Norddeutschland nicht heimisch sind.
Kommissar Brandt schaute von seinem Computer auf. Der Fundort der Leiche war nicht gleich Tatort, soviel war schon mal sicher, dachte er. Wer der Tote allerdings war, konnte ihm bisher niemand sagen. Also auf zum Staatsanwalt, die Genehmigung für die Veröffentlichung eines Fotos des Toten besorgen. Ein Foto in den einschlägigen Kieler Zeitungen und Nachrichtensendungen und die Öffentlichkeit bemühen, so etwas hatte bisher immer Erfolg gebracht.
4
Es hatte ungefähr eine Woche gebraucht, bis das
Foto des toten Mannes vom Friedrichsorter Strand in die Zeitungen gelangt war, die Mühlen der Justiz mahlten mitunter langsam. Obwohl der Aufruf „Wer kennt diesen Mann?“ in verschiedenen, auch überregionalen Presseerzeugnissen zu lesen war, wurden daraufhin nur zwei Anrufe zu Kommissar Brandt durchgestellt. Der erste war der einer Frau. Sie sei die Nachbarin des Mannes, den sie da in der Zeitung abgebildet gesehen hatte. Furchtbar, ließ sie sich am Telefon vernehmen, und ob das Foto von ihrem Nachbarn gemacht wurde, als er schon tot war?, wollte sie wissen.
Der Kommissar ging darauf nicht ein, stattdessen bat er um ihre Adresse und ersuchte sie zu Hause zu bleiben, er würde bald bei ihr sein und ein paar Auskünfte haben wollen.
Der zweite und damit verbliebene Anruf kam ebenfalls von einer Frau. Ihr Name sei Franzi Harms, und ihre Stimme am anderen Ende der Leitung klang die einer jungen Frau. Der Kommissar folgerte daraus, dass sie im selben Alter wie das Mordopfer sein konnte, und auf seine weiteren Nachfragen hin erwies sie sich als eine Bekannte des Toten. Auch ihre Adresse gab sie bereitwillig an, nur den daraufhin von ihm angekündigten Besuch bei ihr lehnte sie ab. Im Präsidium wolle sie auch nicht erscheinen, bat sie mit zarter Stimme, und sie nannte ihm stattdessen ein Café in der Kieler Innenstadt, dort würde sie sich gern mit ihm treffen wollen.
Darauf ging Kommissar Brandt ein, obwohl er an seinen Feierabend dachte, verlegte aber seinen Dienstschluss in Gedanken einfach auf später, tröstete sich damit, dass die Anrufe – auch wenn es nur zwei waren – vielleicht Aussicht auf Ermittlungserfolge versprachen und fuhr sogleich zur Adresse dieser Nachbarin