Der Zorn der Hexe. Lars Burkart

Der Zorn der Hexe - Lars Burkart


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auch die Grippe mischte ordentlich mit. Sie forderte mehr Menschenleben als das Giftgas und alle Maschinengewehre zusammen. Auch viele Zivilisten wurden Opfer des Influenzavirus. Und ganz besonders unsere Familie hatte darunter zu leiden. Sie kämpften nicht an der Front, dafür aber gegen die Grippe. Es war so verheerend, dass nicht mehr als fünf Angehörige unserer Familie überlebten. Unter ihnen mein Urgroßvater, Fritz Borger, den ich selbst noch kennen lernen durfte.

      Diesen Satz hatte ihr Vater handschriftlich geschrieben, vielleicht weil er so persönlich war. Schließlich war es das erste Mal, dass jemand direkt mit seinem Namen genannt wurde und weil dieser Jemand einen Eindruck hinterlassen hatte.

      Und da es so war, bewirkte es auch bei Sabine etwas. Bis jetzt hatte sie dagesessen und gelesen. Doch jetzt brach sie zusammen. Ihr Kopf war schwer geworden, und sie ließ ihn auf den Tisch fallen. Dann begann sie zu heulen. Jämmerlich und laut und schluchzend. Als wäre Fritz Borger ein Freund von ihr gewesen. Und er eben erst von ihr gegangen.

      Nach ein paar Minuten hörte sie auf. Ihre Tränen waren versiegt, ihre Trauer jedoch keineswegs. Vielleicht war es aber nicht nur Trauer allein? Vielleicht lag es daran, dass dies hier immer groteskere Formen annahm und sie es längst nicht mehr kontrollieren konnte? Aber gab es jemals etwas zu kontrollieren? War das hier nicht immer schon gegen ihren Zugriff gefeit gewesen?

      Jetzt hatte sie sich wieder etwas unter Kontrolle; als sie aber erneut auf die Blätter sah, wollte die Tränen erneut losbrechen. So viele grausige Schicksale, das konnte doch wirklich alles kein Zufall sein! Oder doch? Aber diese Frage konnte sie sich nur selbst beantworten. Und dazu musste sie weiterlesen. So schwer es ihr auch fiel.

      Wieder eine Episode aus der jüngsten Vergangenheit.

      Der 17. Februar 1962. Ein Nordwestorkan mit Windstärken zwischen zehn und zwölf treibt während der Nacht das Wasser der Elbe flussaufwärts. Hamburgs veraltete Deiche können den Wassermassen nichts entgegensetzen und brechen. Mehr als ein Fünftel des Stadtgebietes werden überschwemmt. Und es gibt Tote, viele Tote, die meisten werden im Schlaf überrascht. Wahrscheinlich schläft auch Vivienne, es ist ja mitten in der Nacht. Jedenfalls haben sie, ihr Mann und ihre drei Kinder keine Chance. Sie kommen in den Fluten ums Leben.

      Das knabberte wirklich an ihr. 1962, das waren ja nur ein paar Jahre vor ihrer Geburt! Und bei dem Namen, Vivienne, klingelte etwas. War das nicht die Schwester ihres Vaters gewesen? Schon möglich. Sie sollte vier oder fünf Jahre älter gewesen sein. Es kam hin. Hatte ihr Vater nicht mal etwas Derartiges erwähnt? Das war wirklich interessant. Allerdings lag es schon weit in der Vergangenheit zurück, und selbst wenn ihr Vater mal etwas davon gesagt hatte, war sie da bestimmt noch ein kleines Kind gewesen und konnte sich nicht mehr daran erinnern. Schließlich hatte ihr Vater seit dem frühen Tod ihrer Mutter nicht mehr über die Familie geredet … Plötzlich kam ihr noch etwas in den Sinn. War ihre Mutter etwa auch ein Opfer des Fluches geworden? Sabine war noch ganz klein gewesen, als sie starb. Sie wusste nur das, was ihr Vater ihr darüber erzählt hatte. Und er hatte nur gesagt, sie sei sehr krank gewesen. Mehr hatte er dazu nicht verlauten lassen. Doch jetzt, da Sabine all diese grausamen Schicksale kannte und von dem Fluch wusste, sah sie den Tod ihrer Mutter in einem anderen Licht. Ihr alter Herr hatte ihr einen Großteil der Wahrheit verheimlicht! Ganz bestimmt hatte er das! Sie war gewiss nicht an einer Krankheit gestorben, oh nein, sie war ein Opfer des Fluches geworden …

      Und Sabine hatte alle Zeit, den wahren Grund ihres frühen Todes zu erfahren – vorausgesetzt, ihr Vater hatte auch diesen Vorfall in seinen Notizen niedergelegt. Doch hier hegte Sabine Zweifel. Wer weiß, vielleicht war ihm das selbst zu schrecklich, als dass er es tun konnte? Vielleicht hatte er nie ganz Abschied von ihr genommen und sie nie schriftlich erwähnt? Vielleicht hatte er diese Endgültigkeit gescheut? Sabine konnte das gut nachempfinden. Sie hätte es wahrscheinlich ebenso gemacht. Sie hätte eine solche Tragödie nie in ihren Notizen aufgeführt – weil es zu endgültig war und sie Endgültigkeit scheute …

      Aber alles Kopfzerbrechen half nichts: Entweder war das Schicksal ihrer Mutter in diesen Unterlagen aufgeführt oder nicht. Gewissheit würde sie nur bekommen, wenn sie noch einmal in den Keller ging und alle Schriftstücke heraufholte und durcharbeitete. Früher oder später würde sie das tun. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht ließ sie sie da unten, bis sie Schimmel ansetzten und zu Staub zerfielen. Das würde ihr sogar ziemlich gut in den Kram passen …

      Aber zugleich machte sie sich wenig Hoffnung. Sie kannte sich: Sabine wäre nicht Sabine, wenn sie ihren Arsch nicht eben genau dorthin bewegen würde. Aber warum verschwendete sie jetzt ihre Gedanken an so etwas? So weit war sie noch gar nicht. Im Moment hatte sie hier oben doch wohl genug, um ihre Neugier zu befriedigen, oder? Hier lag noch ein ganzer Haufen Schriftstücke. Hier konnte sie ihre Neugier voll und ganz befriedigen. Und genau da lag der Hund begraben: Sie wollte nicht mehr. Anfangs hatte Sabine es für einen Streich ihres alten Herren gehalten, für einen gut durchdachten zwar, aber für einen Streich. Als er dann gestorben war, begann sie daran zu zweifeln, und jetzt, da sie die ganze Tragweite des Verhängnisses kannte, war sie sich sicher, dass es kein Streich gewesen war. Am liebsten hätte sie die Zeit zurückgedreht. Das hier war ihr ein wenig zu groß. Zu weitreichend, zu kolossal schrecklich, als dass sie damit zu tun haben wollte.

      Dummerweise konnte sie sich das aber nicht aussuchen. Sie musste sich damit befassen, weil es sie selbst betraf, weil es in ihrem Interesse lag, darüber Bescheid zu wissen. Warum tat es das? Warum sollte es in ihrem Interesse liegen? Was konnte sie als einzelne Person schon leisten? Darauf hatte sie keine Antwort, aber bei den zwei Wörtern „einzeln“ und „Person“ klingelte etwas in ihrem Oberstübchen. Allerdings war es momentan noch zu schwach, um es entschlüsseln zu können. Aber vielleicht ja mit der Zeit. Wenn ihr Kopf weniger angefüllt war.

      Sabine legte das Blatt beiseite und wollte gerade nach einem neuen greifen, als ihre Hand mitten im Vorwärtsstreben innehielt. Sie fror einfach in der Luft fest, als wäre sie auf eine unsichtbare Wand gestoßen. Sie konnte sie nicht mehr bewegen. Ob sie es nun nicht konnte oder nur nicht wollte, war ungewiss. Sicher war nur, dass sie dem Ganzen fasziniert zusah. Ihre Hand zitterte leicht, wie ein Blatt im Herbstwind. Und die kleinen blonden Härchen an ihrem Arm waren steil aufgerichtet. Und Sabine spürte eine Gänsehaut, die ihr den Rücken hinunterkroch.

      Ein, zwei Sekunden später war es vorbei. Die Gänsehaut wich, und die Hand bewegte sich wieder in Richtung nächstes Blatt. Nur ihre Hand zitterte noch ein wenig. Das war das einzige, was auf das eben Geschehene hindeutete. Sonst war es so, als hätte es nie stattgefunden.

      Sie griff das Blatt und zog es heran. Und da kroch ihr Entsetzen durch Mark und Bein: Auf dem Papier stand etwas, das sie nicht erwartet hatte. Da stand in großen Buchstaben: „Du bist die nächste.“

      Doch in dieser Sekunde verschwand die Schrift, und alles war wieder beim Alten. Sie hatte es sich bestimmt nur eingebildet. Ihre Augen mussten ihr einen Streich gespielt haben. Denn nun war der Satz verschwunden, und sie sah nur wieder, was vorher auf dem Blatt gestanden hatte – eine Tragödie, die einem Mitglied ihrer Familie zugestoßen war.

      Nun hatte sie endgültig genug. Sie wollte nichts mehr davon wissen. Es reichte. Das Maß war voll. Sabine warf das Blatt wie einen Frisbee von sich. Natürlich flog es nicht so gut wie eine Scheibe, aber es reichte, um es wegzukriegen. Und das wollte sie. Sie wollte es weghaben. Als wäre es ein bösartiges Geschwür. Und in gewisser Weise war es das ja auch.

      Sie sah dem Blatt beim Davonsegeln zu, wie es sich so um seine eigene Achse drehte und sich mal hierhin und mal dorthin bog, als könne es keiner Fliege etwas zu Leide tun. Eigentlich konnte es das ja auch nicht, doch sein Inhalt hatte es in sich. Er war das, was sie fürchtete. Früher hatte sie einmal geglaubt, es gäbe nichts, wovor sie Angst haben musste. Doch diesbezüglich hatte sich ihre Meinung geändert. Sie wusste jetzt, dass es sehr viel gab, viel zu viel, um genau zu sein, wovor sie Angst haben musste. Und sie hatte Angst. Mehr Angst, als sie je gedacht hatte ausstehen zu müssen.

      Oh ja, ihr Vater hatte recht damit behalten, wenn er gemeint hatte, sie würde dieses Wissen verfluchen. Jetzt, im Nachhinein, stimmte sie ihm zu. Doch nun war es zu spät. Es ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Wenn sie darüber nachdachte, wusste sie jedoch, dass Unwissenheit sie nicht geschützt hätte. Also, wozu sich noch darüber


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