Der Zorn der Hexe. Lars Burkart

Der Zorn der Hexe - Lars Burkart


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Was ging hier vor? Sie rannte ungefähr dreißig, vierzig Schritte in den Wald, blieb kurz stehen, sah sich um, rannte noch einmal ein paar Schritte, scheinbar aufs Geratewohl, in irgendeine Richtung und warf sich in eine Senke. Also wirklich, nun war es aber genug!

      Dummerweise blieb ihr nichts anderes übrig. Sie lag jetzt hier in dieser Senke, in die sie spektakulär gesprungen war wie eine Stuntwoman. Die Sache war oscarreif: mit dem Kopf voran, todesmutig, ohne auch nur zu wissen, wie tief sie war oder ob etwas Gefährliches darin lag, ein spitzer Ast etwa, der aus dem Boden lugte und sie aufspießen konnte wie ein Speer ...

      Ihr wurde immer mulmiger zumute. Was ging hier vor? Warum sauste sie wie ein Wirbelwind durch den Wald und warf sich todesmutig in ein Loch, das sie gar nicht kannte?

      Da plötzlich dämmerte es ihr: Sie wollte von den Besitzern der Stimmen nicht gesehen werden. Das war der einzige plausible Grund. Aber warum? Sie wusste doch weder, wer sie waren noch, wohin sie wollten. Bis eben noch hatte sie geglaubt, allein hier zu sein. Wo auch immer dieses „hier“ sein mochte. Ja, verdammt noch mal, sie wusste noch nicht einmal das!

      Na schön, na schön. Sie flüchtete also wie die Beute vor seinem Jäger. Und da ihr nichts anderes übrig blieb, würde sie damit irgendwie leben. Es sprach aber bestimmt nichts dagegen, mal einen Blick zu riskieren, oder? Neugier ist schließlich eine Tugend, und was das anging, war sie die Tugend in Person!

      Sie robbte etwas nach vorn, nicht viel, nur so weit, um aus der Senke spähen zu können.

      Da kamen die Besitzer der Stimmen auch schon über die Anhöhe. Es waren vier Frauen. Das überraschte Sabine; schließlich hatten die Stimmen sehr markant geklungen, eigentlich mehr wie die von Männern. Und noch etwas überraschte sie: Es waren die Kleider, die sie trugen. Sie passten nicht in die Gegenwart. Sie waren ganz anders als alles, was Sabine bisher gesehen hatte … Nein, etwas Ähnliches hatte sie schon einmal gesehen. Aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie wusste, wann das gewesen war und in welchem Zusammenhang!

      Die Frauen dort trugen, so sah sie, seltsame Beinlinge, die ihnen bis zu den Knien reichten, dazu weite Filzkittel, bei denen Sabine unweigerlich an einen Lumpensammler denken musste. Ihre Tracht war seltsam grau und eintönig, und sie war schmutzig. Sie war richtig schmutzig, sie stand regelrecht vor Dreck. Sabine schüttelte es schon vom puren Ansehen.

      Dann waren die vier Frauen auch schon wieder vorbei, und Sabine war sprachlos. Sie lag auf dem Boden in ihrer Senke, die Augen weit aufgerissen und ungläubig hinter ihnen her starrend. Was ging hier vor? Wo bin ich hier nur gelandet? Und, verdammt noch mal, wann?

      Doch sie hatte keine Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen, denn in diesem Moment begannen ihre Beine wieder mit ihrem Eigenleben. Und wie zuvor blieb ihr nichts anderes übrig, als ihnen zu gehorchen. Sie pirschte sich zwischen den Bäumen entlang, immer auf Höhe der vier Frauen. Und es grenzte schier an ein Wunder, dass sie sich nicht die Knochen brach, während sie über etwas stolperte – und das tat sie fast pausenlos. Doch seltsamerweise erzeugte sie keine Geräusche, obwohl sie wie ein wildgewordener Derwisch wütete.

      Noch etwas kam ihr seltsam vor. Sie wusste, dass es lächerlich war, aber sie glaubte, eine der Frauen zu kennen. Aber woher? Sabine war sich sicher, keine von ihnen je gesehen zu haben. Dennoch, sie spürte es. Es war da und ließ sich nicht leugnen. Eine dieser Personen war ihr vertraut. Sie wusste nur noch nicht, welche.

      Sie hastete weiter zwischen den Bäumen entlang, nur einen Steinwurf von den Weibern entfernt. Sie hätten ihre Anwesenheit schon längst mitkriegen müssen, verdammt! Wenn nicht durch die nicht vorhandenen Geräusche, dann, weil sie so verdammt nah an ihnen dran war. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu …

      Und dann wurde es plötzlich schwarz.

      Und als es wieder hell um sie herum wurde, fand sie sich auf einem großen Platz wieder, inmitten einer Menschenmenge. Es waren bestimmt an die dreihundert Leute, vielleicht sogar mehr. Und sie waren alle seltsam gekleidet. Sabine kam sich ziemlich verlassen vor, und sie hatte Angst – am meisten wohl davor, entdeckt zu werden. Wie würden die Menschen reagieren, wenn sie merkten, dass die Frau da in ihrer Mitte nicht zu ihnen gehörte?

      Doch darüber brauchte sie sich nicht den Kopf zerbrechen, wie sie eben feststellte. Sie trug nämlich plötzlich ebenso seltsame Gewänder. Doch das war noch nicht alles, nein, das ganze merkwürdige Drumherum ging fröhlich weiter: Ihre Hände waren schmutzig und schwielig, die Fingernägel abgekaut und ihre Arme zerkratzt.

      Eigentlich hätte es ihr ihre Angst machen müssen, aber sie wunderte sich über gar nichts mehr. Sabine hatte sich damit abgefunden, dass hier seltsame Dinge geschahen. Und da sie es ohnehin nicht ändern konnte und ihr scheinbar keine Gefahr drohte, beließ sie es einfach dabei und widmete sich stattdessen dem Schauspiel. Sie war sogar ein wenig gespannt auf das, was noch kommen würde.

      Die Menschenmasse grölte und brüllte. Es war eine Stimmung wie auf dem Jahrmarkt. Sabine hatte fast den Eindruck, in einem Footballstadion zu stehen, inmitten von Tausenden begeisterter Fans, die ihrer Mannschaft zujubelten: Yes, Baby, das war ein Touchdown! Mach´s noch mal, du verdammter Schweinehund! Führ uns zum Sieg!

      Dann wurde es wieder schwarz.

      Und als es dann wieder hell wurde, war die Stimmung eine ganz andere. Als sie wegtrat, war sie ausgelassen gewesen und fröhlich, und als sie wiederkam, war das blanke Gegenteil der Fall. Es herrschte ein Schweigen, dass einem eine Gänsehaut den Rücken hinunterkriechen konnte.

      Eine Sekunde später begriff Sabine, dass das Schweigen besser gewesen wäre. Jedenfalls besser als das, was sie jetzt hörte. Jetzt redete nämlich eine Stimme. Und was sie zu sagen hatte, war alles andere als erfreulich. Sie bewirkte weit mehr als eine läppische Gänsehaut. Viel mehr.

      Denn nun begann in der Menschenmasse, die bis eben ruhig gewesen war, eine Bewegung. Sie begann ganz langsam, wurde aber schneller. Jetzt bemerkte Sabine noch etwas anderes: Die Bewegung führte von ihr weg. Aber sie war nicht der Grund. Nein, es war eine andere Frau. Und zwar die, die vor ihr stand. Es war eine von den Weibern, die sie im Wald gesehen hatte. Sie war die einzige, die nicht vor ihr zurückwich. Sabine und die Frau standen jetzt in einem Kreis, der sich um sie gebildet hatte. Hatte sie etwa irgendeine ansteckende Krankheit? Warum wichen die Menschen vor ihr zurück?

      Und da schnitt jene Stimme sich tief in ihr Bewusstsein.

      „Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage! Du hast dir diesmal die Falsche ausgesucht! Diesmal hast du ins Schwarze getroffen! Ich bin eine Hexe! Alle deine Familienmitglieder und auch die, die es in Zukunft noch werden, werden einen frühen, unerwarteten und schmerzhaften Tod sterben!“

      Sabine traute ihren Augen kaum. Da stand tatsächlich eine Frau auf dem Scheiterhaufen. Und sie loderte wie eine Fackel, aber brachte es tatsächlich fertig, dabei abwechselnd lauthals zu lachen und immer wieder diesen Fluch auszustoßen. Um sie herum erbrachen sich die Menschen, kippten ohnmächtig nach hinten oder standen nur fassungslos da.

      Und da, ganz plötzlich, von einem Augenblick auf den nächsten, verschwand die brennende Gestalt. Sie löste sich in Luft auf. In der einen Sekunde war sie noch auf den Scheiterhaufen gebunden, in der nächsten war sie weg. Auch das Feuer war aus. Noch nicht einmal das Holz glomm nach. So, als hätte dies alles nie stattgefunden. Das einzige, was Zeugnis von dem Vorfall ablegte, war das Echo ihrer Worte. Noch minutenlang tönte über ihren Köpfen der Satz: Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage!

      Da konnte auch Sabine sich nicht mehr zurückhalten und erbrach sich zwischen ihre Füße. Es stank nach verbranntem Fleisch, verbrannten Kleidern und verbrannten Haaren.

      Erst nach einiger Zeit hatte sie sich entleert. Ihr Hals schmerzte, er schien blutig zu sein. Konnte ein Mensch so viel erbrechen, dass es ihm die Kehle von innen aufriss? Zwischen ihren Schläfen hämmerte ein Schmerz, der jeder Beschreibung spottete. Aber sonst schien es ihr bestens zu gehen, zumindest im Anbetracht der Umstände.

      Auch die anderen Menschen erholten sich langsam. Das Erbrechen ließ allmählich nach, und seit einigen Minuten war schon niemand mehr in Ohnmacht gefallen. Aber das Schweigen hielt noch an.

      Der


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