Der Zorn der Hexe. Lars Burkart
„Haben Sie vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.“
„Gern geschehen, mein Kind.“
Seltsam, diese völlig fremde Frau sagte nun schon zum wievielten Male mein Kind? Und Sabine schraubte sich dabei nicht wütend durch die Decke? Wozu auch. Sie war diejenige, die etwas von ihr wollte, da musste man schon ein bisschen freundlich sein. Und außerdem: Sie war schließlich nur eine Fremde. Da wollte sie nicht gleich vor Wut platzen.
„Haben Sie denn nun die Geburtsurkunde Ihres Herrn Vaters und Ihren Ausweis dabei, bitte?“
„Ach so, ja! Das habe ich doch ganz vergessen! Wie dumm von mir! Ich habe alles da. Warten Sie einen Moment, ich suche sie nur schnell in meiner Handtasche.“
Sie kramte darin herum, förderte eine Packung Tictac und einen Zehnerstreifen Wrigley´s hervor – und schließlich auch die nötigen Unterlagen.
„So, da haben wir sie ja!“
Die Frau studierte alles über ihre Hornbrille hinweg. Wozu brauchte sie das Ding eigentlich? Sie schien doch bestens sehen zu können!
„Hm“, blubberte sie vor sich hin.
„Was? Was ist denn?“
Sabine war in Sorge. Bis eben hatte alles so gut geklappt. Sollte doch noch etwas schiefgehen?
„Wie ich gerade sehe, wurde Ihr Herr Vater 1938 geboren.“
„Und?“ Sie kam sich vor wie auf glühenden Kohlen.
„Nun, wie ich Ihnen bereits mitteilte, könnte es sein, dass Ihr Vater gar nicht aufgeführt ist.“
„Ich verstehe.“
Doch eigentlich verstand sie gar nichts.
Die Alte schien das zu spüren, denn sie erklärte: „Wie ich ihnen bereits mitteilte, können die Aufzeichnungen in dieser Zeit etwas … nun ja, lückenhaft sein.“
„Selbstverständlich.“
Als hätte sie es gewusst. Aber so war Sabine schon immer gewesen: Sie ließ sich höchst ungern belehren. Sie kam sich dann immer dumm und unwissend vor. Diesmal hielt es sich jedoch in Grenzen; sie konnte ihre Unkonzentriertheit immer noch auf den Tod ihres Vaters schieben.
„Einen kleinen Moment noch. Ich klingele kurz durch. Es ist möglich, dass die zuständige Mitarbeiterin heute woanders tätig ist oder vielleicht sogar frei hat.“
„Tun Sie das bitte.“
Keine drei Minuten später betrat Sabine den Fahrstuhl, der sie in den vierten Stock bringen sollte. Die zuständige Mitarbeiterin war anwesend, und sie hatte auch ein paar Minuten Zeit für Sabine. Mehr brauchte sie nicht. Sie sollte ja nur die Unterlagen ihrer Familie heraussuchen, ihr geben, und damit war ihre Aufgabe auch schon erledigt.
Die Frau, die sie erwartete, war nicht halb so alt wie die an der Rezeption. Und sie war auch, was Freundlichkeit und Zuvorkommen anging, eher zugeknöpft. Fast wirkte sie ein wenig grimmig. Aber, was soll’s? Sabine wollte sie ja nicht zur Freundin haben. Sie wollte von ihr nur den Ordner über ihre Familie kriegen, und dann konnte sie ihr gestohlen bleiben …
Sie nahm in einem Kämmerlein Platz, in dem es kühl war, fast noch kühler als auf der Straße. Der Regen prasselte gegen das Fenster und wirkte einschläfernd. Aber um sich zu entspannen, war sie viel zu aufgeregt. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals. Und in diesem stillen Kämmerlein klang das so laut, als wolle es explodieren. In der Mitte des Raums stand ein kleiner Schreibtisch mit einer Schreiblampe und einem Stuhl. Sie knipste sie an, denn sie wollte in dem Schummerlicht nicht müde werden und vielleicht noch einschlafen.
Der Raum war spärlich eingerichtet, nur der Stuhl in der Mitte, eine Gardine vor dem Fenster und ein paar Stadtansichten an den Wänden. Aber das war Sabine so gleichgültig wie der Missmut der Beamtin. Sie stand noch einmal auf, legte den Mantel ab, hängte ihn an den Haken, setzte sich wieder, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, bis die Frau zurückkam.
Vielleicht war Sabine kurz weggedämmert, vielleicht war sie auch nur kurz in Gedanken woanders gewesen, jedenfalls stand die unfreundliche Frau plötzlich vor ihr wie aus dem Nichts und blickte missmutig zu ihr herab. Unter ihrem rechten Arm hielt sie einen schwarzen Ordner geklemmt, der nicht sehr dick war, allenfalls zwanzig Seiten mochte er haben. Aha, dachte Sabine, da drin ist also alles verzeichnet. Viel ist es ja nicht.
Die Frau legte die Akte mit mürrischem Gesicht auf den Tisch, und wenn Sabine sich nicht täuschte, grummelte sie dabei leise vor sich hin. Was stimmte mit ihr nicht? Hatte Sabine ihr irgendetwas getan? Außer ihr Arbeit zu beschaffen und ihre Ruhe zu stören? Doch dann besann sie sich. Es war nicht wert, dass sie sich darüber den Kopf zerbrach. Sie hatte andere Aufgaben.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
Das klang freundlich, aber das Mienenspiel ihres Gesichts und ihre Augen verrieten, dass sie es keineswegs so meinte. Dieses Miststück wünschte wohl jedem die Pest an den Hals, was?
„Nein, danke. Ich hab alles, was ich brauche. Vielen Dank.“
„Gut. Wenn Sie mich brauchen, ich bin nebenan.“
Das sagte ihr Mund, doch der Rest ihres Körpers sagte: Wenn sie was brauchen, lassen sie mich bloß in Ruhe!
Sabine ließ sich von dem eigenartigen Unmut nicht ins Bockshorn jagen. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und säuselte süß: „Haben Sie nochmals vielen Dank“
Das Luder zog nur die Augenbrauen empor, machte kehrt und verließ den Raum. Sabine weinte ihr keine Träne nach. In ihrer Studentenzeit hatte sie für Weiber solchen Schlages nur einen Satz übrig gehabt: Die gehört mal wieder so richtig durchgefickt. Aber diese Zeiten lagen weit zurück, und seitdem hatte sich vieles verändert. Auch sie selbst.
Doch der Satz brachte noch etwas zurück in ihre Erinnerung, etwas, von dem sie meinte, es eigentlich längst überwunden zu haben. Der Drang nämlich, eine Zigarette zu rauchen. Als Studentin hatte sie die Dinger gefressen, und wenn sie erkältet gewesen war, hatte sie eben Mentholzigaretten geraucht. Hauptsache, es qualmte und stank. Wenn es das tat, war sie zufrieden.
Für diese Erinnerungen war sie der Frau böse, richtig böse. Ein Glück, dass sie erst dann überkommen hatten, als sie den Raum verlassen hatte! Vielleicht war es auch nur der Stress der letzten Tage, der ihr Fell dünner hatte werden lassen. Jedenfalls war sie froh, endlich allein zu sein.
Der Regen pladderte an das Fenster. Unter anderen Umständen und wenn noch im Kamin ein schönes Feuerchen gebrannt hätte, hätte es fast romantisch sein können. Doch das war es nicht. Und ihr stand auch nicht der Sinn nach Romantik.
Sabine schloss kurz die Augen, versuchte, ihren Kopf von derartigen sinnlosen Gedanken freizubekommenen, öffnete sie wieder und konzentrierte sich endlich auf ihr Anliegen.
Der Ordner lag vor ihr, in einem schlichtem Grün, das die Stadt wahrscheinlich zu Hunderten geordert hatte. Dennoch kam er ihr ein wenig so vor, als sei er der Heilige Gral und verspräche ihr das Ewige Leben. Nun, den Kopf freizukriegen, schien ihr noch immer nicht ganz gelungen zu sein …
Aber sie konnte nicht Ewigkeiten hier hocken bleiben und die Zeit vertrödeln, sie musste endlich den Arsch hochkriegen, den verdammten Ordner aufklappen und lesen, was in ihm stand! Konnte es tatsächlich sein, dass sie, trotz aller Mühen, die endgültige Gewissheit scheute? War das möglich?
Und da hatte sie ihn aufgeschlagen. Siehst du, Sabine, war doch gar nicht so schwer, was?
Das erste Blatt beinhaltete nur die Adresse und konnte somit getrost überblättert werden. Aber dann wurde es interessant. Und schmerzhaft.
In den Papieren stand etwas, an das sie lieber nicht hatte denken wollen. Sie blätterte von einer Seite zur nächsten, und dann plötzlich sah sie es. Und obwohl es ihre eigene Familiengeschichte war, war sie so überrascht, dass es ihr Tränen in die Augen trieb. Sie hatte es vermieden, alle die Namen zu lesen, die in allen diesen Zeiten geboren und wieder gegangen