Ein ganz klarer Fall. Elke Schwab

Ein ganz klarer Fall - Elke Schwab


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Anblicke, die ihm in Stunden, die er allein war, den Schweiß ins Gesicht trieben. Wie viele Jahre seines Lebens verbrachte er schon damit, grausame Taten aufzuklären, Menschen das Handwerk zu legen, junge Menschen hinter Gitter zu bringen und ihnen somit jeden Lebensweg zu versperren. Wie viele junge Menschen sah er vor sich liegen. Tot, verstümmelt, misshandelt. Menschen, deren Schicksal mit einem Schlag gewaltsam beendet worden war.

      Was war nur in die Menschheit gefahren, dass so viele grausame Dinge geschahen? Ein Menschenleben galt heutzutage nichts mehr, denn die Zahl der Opfer wurde immer größer, die Zeiten wurden immer schlechter. Da schritt er nun auf und ab. Das Haar schon licht und grau, tiefe Falten im Gesicht, die seinen tiefen Schmerz verrieten und für seine 58 Jahre schon arg vom Leben gezeichnet.

      Er wirkte einfach alt und ausgelaugt. In seinen 30 Dienstjahren hatte er zu viel Leid und Elend gesehen, wovon er immer ein Stückchen in seinem Innersten mitgetragen hatte. Diese Spuren waren nicht zu übersehen.

      »Norbert«, hörte er seinen jungen Kollegen rufen, mit dem er bereits seit fünf Jahren zusammenarbeitete, und dessen Temperament ihn immer wieder verwunderte und verärgerte; ja ihn sogar wütend machte. Wütend darüber, dass er selbst so ohnmächtig war, es nicht zügeln zu können. Andreas Hübner war vor einiger Zeit zum Kommissar befördert worden, was er nur seinem besonderen Ehrgeiz verdankte. Ein Ehrgeiz, der jeden menschlichen Zug in den Schatten stellte. Oft schon hatte er versucht, ihm aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen klarzumachen, dass beruflicher Erfolg und nüchterne Ermittlungen nicht alles im Leben waren. Es waren immer noch Menschen, über die ermittelt, geurteilt und gerichtet wurde. Aber das übersah sein Kollege, was wohl auch seiner jugendlichen Unerfahrenheit und seinem Temperament zugeschrieben werden konnte. Aber er würde nie damit aufhören, ihn zu mäßigen und zu belehren. Es war das einzige, was er tun konnte.

      Nur so konnte er guten Gewissens sein, alles getan zu haben, um vielleicht voreilige Handlungen zu vermeiden. Er wandte seinen Blick dem jungen Kollegen zu, der mit großen Schritten auf ihn zukam. Hübner war ein gutaussehender junger Mann, mit blondem Haar, braungebrannt und athletischem Körper, was Norbert Kullmann ihm zugestehen musste. Er war eher klein und gedrungen, sein Haar war bereits schon in jungen Jahren silbrig grau, wodurch er schon immer älter aussah. Verärgert musste er mit ansehen, wie Hübner auf die Frauen wirkte, wie die Frauen sich bemühten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In solchen Situationen war er niemals gewesen. Bisher hatte er sein Leben allein bestreiten müssen. Mit Frauen hatte er wenig Erfahrung. Ob es nun gut war oder nicht vermochte er nicht zu beurteilen, weil er es nicht anders kannte. Aber wenn er überlegte, mit welchen Schwierigkeiten und Eheproblemen seine Kollegen oftmals zu ihm kamen und ihm ihr Herz ausschütteten, war es vielleicht nicht der schlechteste Weg.

      »Norbert, die Tatwaffe liegt noch im Wagen. Es ist eine 8 mm. Komm’ mit und schau dir das an«, drängte der junge Kollege voller Eifer, womit er ihn völlig aus den Gedanken riss.

      Dieser Fall, der die beiden am Samstagmorgen schon um 6.00 Uhr aus den Betten geworfen hatte, weckte ganz besonderes Interesse bei dem jungen Kollegen. So etwas ist in seinen Dienstjahren, die er mit Kullmann zusammenarbeitete, noch nicht dagewesen.

      Dieses besondere Interesse konnte Kullmann jedoch nicht mit ihm teilen, da er, wenn er Bilanz zog, in seinen langen Dienstjahren bereits so viele schreckliche Ereignisse und Taten miterlebt hatte, dass es ihn nur noch depressiv stimmte. Was hatte er in all den Jahren eigentlich gemacht? Was hatte er verändert? Was erreicht?

      Nichts. Als er anfing, war auch er voller Tatendrang und Ideen. Er glaubte, das zu schaffen, was anderen nicht gelungen war: das Gute siegen zu lassen und die Bösen zu bestrafen. Das Ergebnis hatte er jetzt. Er bewegte sich nur im Kreis. Hier ein Attentat aufgeklärt, dort den nächsten Fall auf dem Tisch. Die Bösen gingen niemals aus, niemals. Auch Hübner würde das nicht ändern können. Nur es ihm jetzt schon zu sagen, wäre einfach zu früh. Er würde es nicht glauben wollen. Genauso wie er damals. Hübner ließ ihn oft wieder daran, denken, wie er früher war und wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er haargenau so angefangen hatte wie sein Kollege heute.

      Oft war ihm in letzter Zeit sein damaliger Vorgesetzter, Edgar Britz, ins Gedächtnis gekommen. Auch er war gezeichnet durch seine jahrelange Konfrontation mit Leiden und Sterben. Seine Versuche, den damals jungen Kullmann in seinem Ehrgeiz zu bremsen waren anfangs auch gescheitert. Wieder dieser Teufelskreislauf, stellte Kullmann wie so oft fest, alles endete wieder am Anfang. Auch erinnerte er sich in diesem Augenblick schmerzlich daran, dass nach kurzer Zeit Edgar Britz selbst das Opfer eines Attentats wurde. Erst dann, als es zu spät war, hatte Kullmann ihn verstanden. Dieses Ereignis veränderte sein ganzes Denken und Handeln. Edgar Britz war ein so wunderbarer, korrekter, aufrichtiger Mensch, mit einem so klaren und guten Charakter, wie man es heute wohl nicht mehr oft erleben konnte. Alle Fälle, die er bearbeitete, wurden mit einer Korrektheit ausgeführt, dass es an Perfektionismus grenzte. Edgar Britz sagte man nach, er arbeitete nicht nur für das Recht, er war es. Als es dann diesen Mann traf, waren alle, die mit ihm arbeiteten oder die ihn kannten zutiefst betroffen und erschüttert. Wer konnte diesem Menschen, der sich so vehement für das Gute einsetzte und das Böse bekämpfte, so etwas antun? Die Antwort war ganz einfach: die unbesiegbaren Bösen. Der Fall wurde niemals aufgeklärt, so sehr sich der ganze Polizeiapparat auch darum bemühte. Auch er selbst hatte lange Nachforschungen angestellt, aber nichts erreicht. Der Täter kam irgendwo aus dem Nichts und verschwand auch wieder dorthin.

      Es gab keine Chance, ihn zu fassen. So wie es niemals eine Chance gab, das Böse zu fassen.

      Edgar Britz war mit einem Auto mehrfach überrollt worden, bis er endlich starb. Es war die grausamste Tat, die Kullmann je erlebt hatte – auch in den nachfolgenden Dienstjahren.

      Kopfschüttelnd wandte er sich wieder der Gegenwart zu. Es handelte sich um zwei Männer, die erschossen – einer vor dem Wagen und einer am Steuer des Wagens – von einem Jogger aufgefunden worden waren. Den Papieren konnte man entnehmen, dass sie 39 und 41 Jahre alt waren. Der erste Eindruck, den die Kollegen beim Anblick dieser Leichen hatten, war, dass sie friedlich schliefen. Sie hatten beide die Augen geschlossen, als habe man sie im Schlaf erwischt. Lediglich an dem ausgetretenen Blut, erkannte man, dass sie tot waren. Andreas Hübner versuchte voller Eifer seinem Kollegen alles, was er bisher entdecken konnte, zu erklären, doch Kullman winkte entnervt ab. Wieder vergrub der Alte seine Hände in den Jackentaschen und ging langsam auf den Dienstwagen zu, den er zusammen mit seinem jungen Kollegen in den Einsätzen fuhr.

      »Norbert?«, hörte der Hübner ihm völlig verwirrt nachrufen.

      »Ich fahre ins Büro zurück. Erledige du hier alles und lass’ dich von einem anderen Kollegen zurückfahren.«

      Hübner ging schnellen Schrittes auf den Dienstwagen zu und hinderte den Alten daran, die Wagentür zuzuschlagen.

      »Was ist los mit dir? Wir arbeiten doch immer noch im Team, oder ist mir da was entgangen?« Auf Kullmanns Schweigen hin fügte er an: »Oder wird einfach nur dein Gemüt zu schwach?« Die leichte Ironie in seinem Ton war nicht zu überhören.

      Kullmann schaute zu ihm hoch in sein vor Eifer errötetes Gesicht, das von blonden im Wind flatternden Locken eingerahmt war, und lächelte: »Mein Gemüt wird nicht zu schwach. Ich glaube, ich werde langsam zu alt für diesen Job. Ich lasse mich besser zum Innendienst versetzen. Vielleicht kann ich als Schreibtischhengst noch einmal aufwiehern.«

      Hübner war völlig sprachlos. Er sah zu, wie sein älterer Kollege die Tür zuschlug, den Wagen startete und davonfuhr. Verwirrt ging er wieder an den Tatort zurück, um weitere Spuren zu sichern.

      Es hatte begonnen zu nieseln. Kullman musste die Scheibenwischer einschalten, um besser den zähfließenden Verkehr beobachten zu können. Sein Weg führte über die Hochstraße, die Breite Straße und weiter am Saarbrücker Hauptbahnhof vorbei, wo die Verkehrsdichte selbst am Samstagmorgen unerträglich war.

      Wütend hupten und blinkten die Autofahrer auf, aber was nützte es? All die Ungeduld dieser Menschen – es wurde immer schlimmer statt besser, dachte Kullmann, wobei seine Gedanken wieder zu den beiden Toten schweiften. Wofür das alles, diese Hektik, diese Eile?

      Die Zeit war der böse Geist unserer Gesellschaft,


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