Der Anti-Koch (Die Gesellenjahre - Teil 1). Ralf Real Shock
die Seitenscheibe knallte. Dabei ist das linke Auge tiefer gerutscht und die Ärzte im Krankenhaus bekamen auch bei der wievielten Operation den Kopf nicht mehr gerade gerichtet, deshalb hängt er jetzt immer auf halb acht.“
Ich blickte Breuer ungläubig an. Was hatte er sich denn da nur auf die Schnelle für eine Geschichte zusammengebastelt? Und sie mit einer solch todernsten Mimik erzählt, dass man sie im ersten Moment durchaus für bare Münze nehmen konnte. Das klang aber sehr vertraut nach Roberts kleiner Märchenstunde aus der Berufsschule und zudem hatte mich mein Küchenchef auch schon gewarnt, nicht alles zu glauben, was Breuer im Laufe eines lieben langen Arbeitstages so spontan ablässt.
Also ging ich nun das erste Mal in die Offensive, blieb unbeeindruckt und schaute ihn äußerst kritisch an: „Und das soll ich Dir jetzt glauben? Breuer???“
Darauf war Breuers aufgesetztes Pokergesicht nicht eingestellt. Es zuckte kurz in seinen Mundwinkeln, dann streiften seine Augen beiläufig mein entschlossenes Gesicht. Er zog die linke Augenbraue hoch und flötete ungeniert: „Na klar, Heinemann. Wieso?“ Weiter kam er nicht. Ich hatte ihn durchschaut. Wir brachen gleichzeitig und wie auf Kommando in ein höllisches Gelächter aus, was sich binnen weniger Sekunden in einen Lachkrampf steigerte, sodass die äußerst empörten Muttis vom Nebentisch ihre liebe Not hatten, uns zur Ruhe zu mahnen. Als wir uns einigermaßen beruhigt hatten und die letzten Tränen aus den Augen gewischt waren gluckste Breuer: „Aber das mit der Glocke stimmt tatsächlich. Garantiert!“ Er nahm seine Kaffeetasse, wollte gerade einen Schluck trinken, als er wieder zu schmunzeln anfing und die Tasse absetzte: „Jetzt rede ich Dich an unserem freien Tag auch schon mit Nachnamen an. Aber, ach, ist doch okay, oder?“
„Ich hab da nichts gegen. Hab ich doch auch vorhin gemacht. Ganz automatisch. Breuer!!!“, grinste ich zurück.
„Ich muss jetzt los. Wir sehen uns dann morgen auf der Arbeit. Dann wirst Du auch den Döpke kennenlernen. Mach Dich auf was gefasst, Heinemann. Der ist eine ganz harte Nuss.“
Ich kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, denn beim Verlassen des Cafés wurden wir direkt am Ausgang von einer jungen Dame mit einem Klemmbrett unter Arm abgefangen.
„Hallo, dürfte ich Sie etwas fragen?“
„Aber klar doch“, schoss es Breuer allerliebst aus dem Mund.
„Nun, ich bin im Auftrag von der Deutschen Post unterwegs und wir machen eine Umfrage. Hätten Sie einen Moment Zeit? Es geht auch ganz schnell.“
Nachdem Breuer die wenigen Fragen wahlweise mit einem knappen Ja oder Nein beantwortet hatte, fragte die Frau, ob sie neben seiner Adresse auch seine Telefonnummer notieren dürfte.
„Selbstverständlich. Dafür ist ja so eine Umfrage da.“ Breuer machte zunächst völlig falsche Angaben zu seiner Adresse. Die Frau schrieb alles brav auf.
„Und Ihre Rufnummer ist….?“
„Oh, die weiß ich jetzt nicht auswendig. Aber Moment, ich ruf mal eben zuhause an.“ Er deutete auf die Telefonzelle gegenüber von Tchibo.
„Machen Sie nur, Machen Sie nur. Ich hab Zeit,“ winkte die Dame freundlich ab.
„Heinemann, hast Du noch Kleingeld? Ein paar Groschen. Ich hab nur noch einen Fuchs.“
„Ja, müsste ich haben.“
Dann lief er auf die Zelle zu, stieß die Tür mit einem Ruck auf, nahm den Hörer ab und fing an, an der Scheibe zu drehen, ohne vorher meine Groschen einzuwerfen. Während er angeblich wartete, dass jemand am anderen Ende abnahm, schaute er kurz zu uns rüber, die Frau lächelte zurück, dann machte Breuer eine übertriebene Handbewegung, was bedeutete, dass er jemanden in der Leitung hatte. Nach kurzer Zeit legte er auf und kam wieder zu uns. Das Ganze hatte noch nicht einmal eine Minute in Anspruch genommen.
Die Frau trug sich die von Breuer wahllos ausgedachten Zahlen auf ihren Fragebogen ein, bedankte sich und ging weiter. Als sie endlich außer Reichweite war, prusteten wir los.
Ich war der Erste, der wieder einigermaßen der Sprache mächtig wurde: „Breuer, wenn Du so weiter machst, mit Deinen Verarschungen, kommst Du noch mal in Teufelsküche.“
„Sind wir da nicht schon längst?“, kam seine Antwort in einem strengen Ton zurück.
Lachend stiegen wir auf unsere Drahtesel und verabschiedeten uns.
Deo
„Guten Morgen, Herr Pätzold.“
„Guten Morgen, Herr Heinemann.“
„Herr Pätzold?“
„Ja, Herr Heinemann. Was gibt´s denn?“
„Äh, da steht ein Deo auf dem Pass.“
„Das hat schon seine Richtigkeit. Kümmern Sie sich nicht drum.“
„Ach so? Ja. Okay.“
Die Uhr zeigte 8:25 Uhr, als ich die Küche an diesem Morgen zum Frühdienst betrat. Von meinem neuen, noch unbekannten Kollegen, der an dem Tag krankgeschrieben wurde, als ich gerade angefangen hatte, war keine Spur weit und breit zu sehen. Herr Pätzold wirkte angespannt und ungehalten. Von seiner sonst so lockeren lustigen Art war nichts zu spüren.
Das Telefon klingelte. Herr Pätzold eilte mit großen Schritten ins Büro und nahm ab. In kurzen Abständen sprach er genervt ein „Ja, gut“, „Ja, in Ordnung“, „Ja, ich weiß Bescheid“ in die Sprechmuschel. Mit Schmackes knallte er den Hörer wieder auf die Gabel.
„Das war Herr Döpke. Er kommt später. Hat verschlafen, wie er sagt“, rief er mir zu. Ich nickte in seine Richtung, aber er drehte schon wieder ab und brummelte so etwas wie „Fängt die Scheiße schon wieder an.“
„Herr Heinemann, ich bin mal kurz im Personalraum verschwunden. Großartig vorbereiten müssen wir ja heute nichts. Wenn was ist, rufen Sie mich. Ja? Ach so, und wenn der Herr Döpke kommt, auch. Ja?“
„Ja, Chef. Mach ich.“
Ich hatte mich in der neuen Küche erstaunlich gut eingelebt. Ich wusste schon nach einer Woche, wo fast alles stand und hingehörte. So baute ich fix das Mise en Place für den Mittag auf und schnippelte danach noch schnell die vom Vortag übrig gebliebenen Salzkartoffeln für Bratkartoffeln weg, als ich hinter mir unverständlich gegrunzte Laute vernahm, die bei genauem, angestrengtem Hinhören wie nach einem „Hallo“ klangen. Ich drehte mich erschrocken um und sah auf eine regungslose, in sich gekrümmte Gestalt, die mitten im Raum wie aus einem Zombiefilm platziert worden war und die mich schon eine ganze Weile beobachtet haben musste. Mir wurde schlagartig unheimlich.
„Sie sind der neue Koch?“, ranzte es mich unwirsch an.
„Ja? Und Sie?“, stieß ich zögerlich hervor.
Keine Antwort.
Schweigen.
Kurze Denkpause. „Sind Sie, äh, Herr Döpke?“, setzte ich nun mutiger hinterher.
Wieder keine Antwort. Dafür bewegte es sich im Zeitlupentempo auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen, die sich klebrig und eiskalt anfühlte. Bei der Berührung zuckte ich kurz weg, erwiderte dann aber seinen trägen, schlaffen Händedruck.
„Ich hol mal den Chef. Ja?“
Keine Antwort.
„Ist im Personalraum.“
Keine Antwort.
Ich zog unbewusst die Schultern hoch, überließ der Erscheinung seinem Schicksal und machte mich schleunigst aus dem Staub.
„Ja, war mir klar, wo sonst? Ich komm mit,“ grollte es nun wie ein Donner hinter mir.
Verdutzt hielt ich für einen Moment inne. Hatte