Raphaels Rückkehr. Barbara E. Euler
Jetzt hatte man eine Einstichstelle in der Lendengegend gefunden. Der Mann hatte innere Blutungen erlitten und war bewusstlos geworden. Deshalb war er gestürzt. Deshalb war er tot.
Sie beschrieben die Tatwaffe als dünnen Spieß. Mit geschlossenen Augen fuhr Raphael noch einmal den nächtlichen Parcours durch Flors Küche ab, aber da war nichts und er wusste auch wenig von Küchengeräten. Nur Zahnstocher fielen ihm ein. Er lachte rau. Mit Zahnstochern tötete man allenfalls einen Schlumpf. Wenn überhaupt. Schlümpfe waren verdammt zäh. Als Kind hatte er einem den Kopf abzubeißen versucht. Vergebens versuchte er sich zu erinnern, warum …
Raphael hieb mit der Faust auf das Papier. Die verdammten Tabletten. Manchmal flossen ihm die Gedanken weg wie verschütteter Kaffee. Er schob sich eine Belga zwischen die Lippen und atmete tief ein. Der herbe Geruch erdete ihn. „Nicht hier“, sagte Anna mechanisch. Er bemühte sich, nicht hinzuhören. Nur zu Hunden sprach man so. Er hatte nicht vorgehabt, zu rauchen. Er ließ die Zigarette in den anderen Mundwinkel tanzen. Konnte es sein, dass sie eine solche Einstichstelle beim ersten Mal übersehen hatten? Normalerweise fanden sie Injektionsspuren. „Anna“, die Zigarette wanderte auf die andere Seite zurück. „Welche dünnen Spieße benutzt man in der Küche?“
Als keine Antwort kam, sah er auf. Die Kollegen hatten sich längst wieder an ihre Plätze vertrollt. Manche räumten bereits auf. Feierabend. „Anna“, er legte den Bericht beiseite und fuhr zu ihr hinüber.
Anna hob die Schultern. „Brochettenspieß … Teigpiekser …“ Seufzend drehte sie sich zu ihm herum. „Du kannst es nicht lassen, wie?“ Langsam nahm Raphael die Zigarette aus dem Mund. „Nein“, sagte er hart, „der Mann … Malouf Muhamad …“
„… oder wie er hieß …“, fiel Anna ihm ins Wort.
„… oder wie er hieß … er wurde in Flor Bertrands Küche gekillt“. Raphael sah, dass Anna auf seine um die Zigarette geballte Faust starrte. „Raphael …“, flehte sie. Raphael funkelte sie an. „Was?“
Er klemmte sich die Belga wieder zwischen die Lippen und rollte an seinen Platz zurück. Da hatte Dovenhofs Lieblingsfranzose ja ein echtes Groupie. Und nicht nur eines, wenn er das eifrige Schweigen um ihn her richtig deutete. „Ich werde eine Durchsuchung beantragen“, sagte er über die Schulter. „Einen guten Abend zusammen!“
Er zitterte schon wieder, als er draußen die Zigarette ansteckte. Er könnte jetzt auf seiner verdammten Couch sitzen und bei einer Vorabendserie auf Grit warten. Sie würden dann gemeinsam den Tisch decken und essen, während die Abendnachrichten liefen.
Er drückte die Kippe aus und warf sie in den Aschenbecher.
Die Leichenschauhalle des städtischen Krankenhauses AZ St. Jan verströmte die immer gleiche Kälte. Das immer gleiche grünlich fahle Licht. Die Ärztin, die ihn hereingelassen hatte, führte ihn zu der Stahlplatte, auf der der Mann lag, der vielleicht Malouf Muhamad hieß. Die Ärztin hob das bleiche Tuch und wies auf die unscheinbare Einstichstelle. Raphael biss sich auf die Lippen. An der Lende. Wie im Bericht beschrieben. Man hatte den Mann tatsächlich hinterrücks erstochen.
Raphaels Blick wanderte über die wulstige, grobstichig geschlossene Naht, die sich über den Bauch des Afrikaners zog, von unten an bis gegen den Brustraum. Er dachte an gefüllte Gans und an seinen eigenen Bauch. Das Netzwerk aus Narben, die abschwollen mit der Zeit.
Raphael seufzte. Das hier würde nicht vernarben. Nie mehr.
„Der Durchmesser der Waffe beträgt zwischen 0,8 und 1,2 Millimeter, die Einstichtiefe ca. zwölf bis fünfzehn Zentimeter“, erklärte die Frau. „Zwischen dem Stich und dem Eintritt der Bewusstlosigkeit können bis zu zwanzig Minuten vergangen sein.“
„Rechts- oder Linkshänder?“, fragte Raphael mechanisch. Die Frau sah ihn an und zuckte die Schultern. „Schwer zu sagen“, murmelte sie.
Raphael nickte und sie bedeckte den Toten wieder. Als sie den Stoff über den Kopf ziehen wollte, legte Raphael seine Hand auf ihre und sie ließ das Tuch sinken.
„Ich lasse Sie jetzt allein“, sagte sie. Raphael nickte ihr zu. „Danke“. Seine Stimme klang rau. Die verdammten Zigaretten.
Er besah das Gesicht lange. Es trug noch immer diesen kindlich erstaunten, fast beleidigten Ausdruck. Unverändert. Natürlich. Unverändert auch der Gedanke, der ihn roh wie beim ersten Mal überfiel: Einst hatte er dem Mann das Leben gerettet. Und seins dabei zerschreddert. Wozu das Ganze? Wozu? Er zog das Tuch über das graue Gesicht und fuhr nach Hause.
Nachts tigerte er durch die Wohnung und dachte nach. Da waren so viele Dinge, die er nicht verstand. Und er würde wenig Zeit haben. Irgendetwas sagte ihm, dass er wenig Zeit haben würde. Vielleicht würden sie ihm den Fall wegnehmen.
Vielleicht würde ihm was passieren.
Auf seinem Handy war es viertel nach drei. Schlechte Zeit zum Denken. Eher für das Gegenteil. Raphael nahm den Kopfhörer und suchte seinen Lieblingssong. High sein. Er stellte auf Repeat und schob den Lautstärkeregler hoch. Fucking high. Ein paar entscheidende Teile an ihm waren noch ganz, aber niemand interessierte sich dafür. Niemand außer ihm.
Drei Wochen vor dem Unfall hatte seine Freundin Schluss gemacht. In der SMS hatte was davon gestanden, dass er den Hintern nicht hochkriegte. Das war verdammt richtig. Mühsam hievte Raphael sich in eine bequemere Position und schloss die Augen. Er rief sich ihr Bild in Erinnerung, aber es gelang nur noch halb. Er knöpfte seine Jeans auf. Es würde nicht nötig sein.
Respekt, wer’s selber macht, dachte er grimmig, als er sich mit hastigen Händen hoch und höher schaukelte. Er dachte an Helen oder wie sie hieß. Grit hatte ihm ihre Nummer gegeben; Grit, die alles wusste und alles sah, und der nichts Menschliches fremd war. „Meine Patienten sagen, dass sie gut ist“, hatte Grit erklärt, als sei es das Normalste von der Welt. Helen war bei ihm gewesen, aber er hatte zu viel Angst gehabt.
Raphael wartete, bis er zu Atem gekommen war, und rollte ins Bad. Das mit Helen war eine Weile her; jetzt würde es anders sein.
Nach drei Stunden riss der Wecker ihn aus komatösem Schlaf. Im Büro begrüßte ihn angestrengte Heiterkeit. Er hatte jetzt einen Mordfall. Glückwunsch, Glückwunsch. Jemand stellte einen Becher Kaffee vor ihn hin. Raphael kniff die Augen zusammen. Nette Geste. Zu nett. Aber vielleicht wollten sie ihn nur wiederbeleben; der Untote im Spiegel war leider er selber gewesen. Er nippte von der vertrauten Plörre und versuchte dankbar auszusehen. Den halbvollen Pappbecher zwischen den Zähnen, rollte er an die Tafel und setzte sein Schreibwerk fort.
Zumindest hatte er das vorgehabt, bis er die Tafel tatsächlich sah. Verdammt.
„Wo ist meine Skizze?“, fragte er, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. Er fragte es noch zweimal, bis der erste es aufgab, den Taubstummen zu spielen. Jan räusperte sich. „Die Putzfrau …?“, bot der Kollege vage an.
Raphael wartete, aber da kam nix mehr. Langsam stellte er den Kaffee auf den Boden.
Seine Hand bebte ein wenig, als er die Kappe des Stifts abzog und sich an die jungfräuliche Fläche heranmachte. Reiß dich zusammen, Mann. Er sog den alkoholischen Geruch ein und rekonstruierte mit harten Strichen den Status Quo, der sich in schlaflosen Stunden in sein Gehirn gebrannt hatte, unauslöschlich. Es dauerte nicht lang. Dann rollte er ein wenig zurück und betrachtete das Spinnennetz, in dem sie alle hingen. Bertrand. Ronny Verstraeten. Ein leerer Kreis, den er mit Namen füllen würde, sobald er mehr über die Flüchtlinge vom Lkw wusste. Und ein Toter, der sich Malouf genannt hatte, als man ihn damals aus dem Container gefischt hatte. Keine Papiere. Das Übliche.
„Wenn es dir zu viel wird …“, säuselte eine Stimme an seinem Ohr. So schnell. Raphael fuhr herum und stieß gegen den Kaffeebecher. Er hatte verdammt recht gehabt. Aber ausgerechnet Anna. „… dann sag ich Bescheid … “, knurrte er, mühsam beherrscht, und wandte sich abrupt seinem Schreibtisch zu, während Anna den Kaffee mit einem Papierhandtuch vom Boden sog. „Sorry“, murmelte er. Das hier war erst der Anfang.