Raphaels Rückkehr. Barbara E. Euler
den Kopf zur Tür. Grit. Grit, die unschuldig lächelnd auf ihn zukam und vergnügt ein Fieberthermometer schwenkte.
Widerstrebend hob Raphael den Arm und ließ die Schwester gewähren. „Man begegnet sich immer zweimal“, sagte er lahm. Grit sagte nichts. Grit wartete. Endlich musterte sie das Thermometer und zog Handschuhe an. „Bitte umdrehen“, sagte sie und zippelte ein Zäpfchen aus einer Blisterpackung. Schon wieder. Raphael seufzte. Mehr als einmal war er aufgewacht, weil ihm wer so ein verdammtes Ding reingeschoben hatte. „Was machst du hier?“, murmelte er gegen die Wand, während sie ihm die Hose runterzog. „Mir wurde gekündigt“, sagte sie lapidar. „Job und Wohnung. Es wird jetzt ein bisschen kalt. So. Schon geschafft.“ Raphael unterdrückte einen Fluch und zerrte die Hose hoch.
In diesem Moment kam Fanny reingestöckelt. „Hallöchen, Kollege!“, flötete sie fröhlich. Grit warf die Decke über ihn, schmiss die Handschuhe in den Abfallbehälter und wandte sich wortlos zum Gehen.
Raphael ballte die Fäuste. „Grit …“, sagte er mit erstickter Stimme. Er war so ein verdammter Loser. Auf einmal hörte er, wie die Schwester stehen blieb. „Haddock“, flüsterte sie. Dann schloss sie leise die Tür.
Raphael hielt den Atem an. Haddock war ein Codewort. Das Codewort. Sie hatten das ausgemacht. Für wenn es am schlimmsten war. Kapitän Haddock war seine Lieblings-Comicfigur, ein unbedachter Draufgänger und lieber Kerl, der göttlich fluchte und mit einem Alkoholproblem zu kämpfen hatte. Ein Held. Langsam drehte Raphael sich zu Fanny herum und lächelte.
Haddock hieß: Nicht aufgeben. Nicht jetzt.
Fanny lächelte zurück. Stumm zog sie Zeitungsausschnitte aus einer Mappe, einen um den anderen, und begann, sein Bett damit zu bedecken. Raphael drückte sich mühsam höher und begutachtete die papierene Pracht. Fanny unterbrach ihre Tätigkeit und schob ihm das Kopfkissen im Rücken zurecht. „So?“ Er nickte. Dann nahm er einen Ausschnitt von der Bettdecke und las.
Schwerer Unfall auf der N32
Brügge, 20. Juli. Ein Schwerstverletzter und ein gutes Dutzend leicht Verletzte – das ist die Bilanz einer Verfolgungsjagd, die sich Beamte der Lokalen Recherche Brügge mit einem Lkw lieferten, der mit illegalen Einwanderern Richtung Zeebrugge unterwegs war. Der 20 Tonnen schwere Kühlwagen kippte um und begrub einen 39-jährigen Hauptinspektor unter sich, der mit schwersten Verletzungen per Helikopter abtransportiert wurde. Ein weiterer Beamter erlitt leichte Verletzungen. Der 23-jährige Fahrer des Lkw, ebenfalls leicht verletzt, wurde verhaftet, einige der Illegalen wurden ins Krankenhaus St. Jan verbracht und unter Polizeibewachung gestellt. Andere nutzten die Gelegenheit zur Flucht. Der Lkw war verschweißt. Die Polizeiaktion bewahrte die Menschen vor dem sicheren Erstickungstod. Der schwerst verletzte Beamte kämpft nach einer mehrstündigen Notoperation um sein Leben.
Raphael legte den Ausschnitt weg und fuhr sich über das Gesicht. Nach einer Weile nahm er den nächsten. Illegale immer noch flüchtig, schrieb das Dagblad. Brügge/Zeebrugge, 21. Juli. Auch am Tag, nachdem ein brutaler Schleuser eine Gruppe Illegaler dem sicheren Tod in einem luftdicht verschweißten Kühl-Lkw ausgeliefert hatte, bleiben die Entkommenen flüchtig. Eine Gruppe Beamter der Lokalen Recherche Brügge hatte den Lkw nach einer filmreifen Verfolgungsjagd durch das Hafengebiet gestoppt. Bei der Befreiungsaktion waren mehrere der Illegalen geflüchtet. Der Zustand des 39-jährigen Hauptinspektors, der mit seinem Motorrad unter den umgekippten Zwanzigtonner geraten war, bleibt unverändert kritisch. Nach mehreren Operationen schwebt er noch immer in Lebensgefahr.
Und das waren nur zwei von vielen Ausschnitten. So vielen.
Fanny legte ihre Hand auf seine, als Raphael die Augen schloss. Merkwürdige Laute krochen aus seiner Kehle hoch. Wehrlos ließ er es geschehen.
„Sie können nicht alles löschen“, hörte er sie sagen. Er nahm das Kleenex, das sie für ihn aus der Schachtel neben seinem Bett gezogen hatte. Durch einen Schleier sah er, wie sie die Ausschnitte wieder in die Mappe zurücklegte. Normalerweise hätte er gefragt, wie sie das gemeint hatte. Und warum sie all diese Ausschnitte aufgehoben hatte. Jetzt war er zu müde dazu. „Danke … danke …“, stammelte er. Sie war noch nicht aus der Tür, da schlief er, Glück im Gesicht.
Irgendwann erwachte er wieder. Draußen war es dunkel. Drinnen waberte grünliches Licht. Leichenhallengrünlich. Vorsichtig betastete er seinen dröhnenden Kopf. Der Verband war weg. Da war nur noch ein dickes Pflaster. Das war gut. Dass er es verschlafen hatte, auch. Außer wenn Grit es gemacht hatte. Verdammt. Er zog Rotze hoch. Nein, Raphael. Nicht.
Haddock.
Hadock. Haddock. Haddock. Haddock.
Raphael holte tief Luft. Er stöpselte den Schlauch ab und betrachtete die Kanüle, die in seinem Handrücken steckte. Irgendwas tropfte aus dem Schlauch auf die Bettdecke. Er pulte das Pflaster ab, das die Kanüle hielt. Langsam zog er die dicke Nadel raus und legte sie neben die Cloche mit seinem Abendessen. Blut quoll. Er presste Kleenex auf die Einstichstelle. Ruhig wartete er, bis das Blut geronnen war. Er sah sich um. Seinen Rollstuhl hatten sie in eine Ecke geschoben. Einen Augenblick überlegte er, den Mann im Nachbarbett zu wecken. Dann ließ er sich bäuchlings von der Bettkante auf den Boden gleiten, wo er lange sitzen blieb. Der verdammte Kreislauf. Endlich zog er sich mit den Armen über das glatte Laminat zu seinem Rollstuhl.
Normalerweise kam er locker vom Boden hinein. Aber nicht heute. Verdammt.
Vom Bett aus würde es einfacher gehen. Mühsam bugsierte er den Rollstuhl neben das hohe Krankenhausbett und schöpfte Atem. Sein Blick fiel auf einen Schalter unter dem Bettgestell. Er drückte einen Knopf. Das Kopfteil surrte hoch. Einen anderen. Der war für das Fußteil. Als der Mann im Nachbarbett unruhig wurde, hörte er auf. Man konnte die Höhe nicht verstellen. Er musste so hinein.
Aber erst die Klamotten. Er kroch zum Schrank und bekam ihn auf und fand eine große Plastiktüte, die er mit sich zerrte und auf das Bett warf. Beim dritten Versuch gelang es ihm, hinterher zu klettern. Erschöpft legte er sich hin. Er tastete nach dem Handy in seiner Jacke, aber der Akku war leer.
Seiner auch.
Endlich zog er sich an, langsam, mit Unterbrechungen. Dann hievte er sich in seinen Rollstuhl und fuhr auf den menschenleeren Gang hinaus, zum Lift, in die Eingangshalle und zur Türe hinaus. Eine Uhr zeigte 22.49 h. Niemand hielt ihn auf.
Draußen warteten Taxis. Es war ein großes Krankenhaus. Raphael zündete eine Belga an und nahm einen tiefen Zug. Der aufsteigende Brechreiz trieb ihn zu einem Papierkorb, neben dem er minutenlang keuchend wartete. Nichts geschah. Sein Magen war leer. Endlich nahm er ein Taxi zum Polizeigebäude und ließ sich vor der Schranke des Personalparkplatzes absetzen. Neben der Schranke war ein Durchgang für Fußgänger. Raphael rollte zu seinem Wagen und fuhr durch die nächtliche Stadt nach Hause. Er kam erst nach Ewigkeiten an, weil er einen Riesenumweg zu einem Drive-In gemacht und einen Burger gekauft hatte. Die Frau am Schalter hatte erschrocken geschaut. Die verdammte Hand. Er hatte kein Pflaster gehabt. In der Wohnung nahm er drei oder vier Tabletten und fiel in Schlaf. Das Blut würde er später wegmachen.
Das fröhliche Geplapper, das am nächsten Morgen durch die Bürotüre auf den Gang hinausperlte, erstarb jäh, als Raphael hereinkam. Mit gesenkten Köpfen beobachteten die Kollegen, wie er die Glastüre hinter sich schloss und auf seinen Schreibtisch zurollte.
Raphael verhielt ab und zu und biss in den kalten Burger, den er im Auto gefunden hatte. „Morgen“, murmelte er zwischen zwei Bissen. Alles tat ihm weh, aber er war gut darin, es zu verbergen. „Morgen“, murmelte es vereinzelt zurück. Sie waren alle furchtbar beschäftigt.
„Aspirin reicht nicht, oder?“ Anna. Die kühle Anna, die ihm eine Schachtel hinhielt. Er schüttelte den Kopf. „Ich hab alles“, sagte er leise. „Ich weiß. Es tut mir leid“. Anna lächelte. Sie konnte verdammt nett sein.
„Und?“, fragte er. Stumm wies Anna auf die Tafel. Ich war’s nicht, sagten ihre Augen. Er wünschte, er könnte ihr glauben.