Raphaels Rückkehr. Barbara E. Euler
es einen Toten gegeben hat, in seiner Küche. Mitten in der … in der Nacht … “
Er unterbrach sich. Der verdammte Tee.
Der Zwanzigtonner war damals auch auf seine Blase gefallen. Ein Stück davon hatten sie retten können. Die Hälfte ungefähr. Normalerweise kam er damit klar. Aber jetzt war er nervös. Deswegen hatte er auch nicht an die Flasche gedacht, die am anderen Ende einer viel zu langen Erklärung in seiner Rollstuhltasche am Ufer steckte. „I must pee“, sagte er und versuchte ruppig zu klingen, was gründlich misslang. Sie rührten sich nicht. „It is damn urgent“, schob er nach und fummelte den ersten Knopf auf. Jetzt war es ihm egal, wie er klang. Plötzlich hielt er eine ziemlich leere Tomatendose in der Hand, die aussah, als hätte jemand sie mit den Zähnen geöffnet. Ein Dutzend Augenpaare stierte ihm zwischen die Beine. Beschnitten war er auch noch. Er konzentrierte sich darauf, sich nicht zu entmannen, während er in die rote Sauce pinkelte.
Fertig. Stoisch knöpfte er seine Jeans wieder zu. Er hatte Schlimmeres erlebt. Furcht und Scham waren seine Sache nicht, nicht mehr, und wer ihn deshalb dämlich oder unverschämt fand, sollte es tun. „Thanks“, er lächelte und gab die Dose vorsichtig zurück. Aus dem Augenwinkel sah er, wie jemand den Inhalt mit spitzen Fingern über Bord wippte. Es war nicht, dass er sich niemals ängstigte oder genierte. Im Gegenteil. Furcht und Scham begleiteten ihn seit seinem Unfall wie Piraten eine Luxusjacht. Er hatte nur gelernt, stärker zu sein. Ihnen ins Gesicht zu lachen. Weiterzumachen.
Grit hatte ihn das gelehrt.
Haddock.
Er betrachtete seine Gastgeber, die ein bisschen verwirrt aussahen. „The truck that took my legs took half my bladder, too“, erklärte er knapp. Es hörte sich wie ein verdammter Songtext an. The Cripple’s Song. Lyrics: Raphael Rozenblad. Sie nickten.
„Tell me about Flor“, bat er und lehnte sich in die Kissen zurück.
„Wait. Which truck?“ Ein Mann trat vor, den er bisher nicht bemerkt hatte. Bingo. „Ein Zwanzigtonner … mit einem zugeschweißten Container drauf“, sagte Raphael vorsichtig, jetzt auf Französisch. Das dunkle, magere Gesicht begann zu leuchten. „So vor drei Jahren“, ergänzte er. Der Mann nickte. Raphael musterte die hohen Wangenknochen. Die auffälligen Stammesnarben. Auf dem alten Polizeifoto waren sie unter einem zerzausten Bart versteckt gewesen. Eine weitere Narbe, auf der Stirn, da, wo auf dem Foto der Verband gewesen war.
Partnerlook, dachte Raphael bitter. Sie hatten drei Klammern für seine Platzwunde gebraucht. Wenigstens sah es verwegen aus. Er hatte Fannys Pflaster nicht benutzt.
Der Mann fuhr sich über die zu tief liegenden Augen. „Danke … danke, Bruder …“, wisperte er, „Es tut mir leid … Es tut mir so leid …“ Raphael sah ihn an. Schon okay, sollte er jetzt wohl sagen, aber das wäre eine verdammte Lüge.
„Was ist …“, begann er. Dann traf ihn ein Blick. Furioser Funkenflug aus schwarzen Augen.
Panik.
Raphael sog die Luft ein. „Schon okay“, murmelte er. Er sah, wie der Mann sich entspannte, und lächelte in die Runde. „Wir waren gerade bei Flor. Bertrand. Ist ein komischer Typ, oder? Hat mich ganz schön abgezockt …“ Ein paar Leute begannen zu grinsen. Jetzt empfanden sie doch Mitleid. Vielleicht war es auch Schadenfreude. Jedenfalls empfanden sie was. „Und dann die Sache mit diesem Koch“, fuhr Raphael fort. „Sie haben mir den Fall gegeben. Reine Routine. Schafft sogar ne halbe Portion wie ich …“, er ließ Raum für die schüchternen Lacher, die jetzt kamen. „War aber keine Routine“, schloss er. Er sagte nichts von Mord. Er hörte zu, weil sie jetzt endlich zu reden begannen.
Er ist ein guter Mann.
Er zahlt gut.
Es ist gute Arbeit. Immer gute Arbeit.
Ein jeder kannte Flor. Der kleine Mann aus Wallonien hatte was, das sie berührte. Er wusste noch, wie es war, wenn man von ganz unten kam. Wenn man die Sprache nicht beherrschte. Die Sitten nicht verstand. Er war einer von ihnen, irgendwie.
„Ein guter Mann, hm …“ Raphael nickte. Jemand brachte Bier. Raphael schüttelte den Kopf. „Ich darf ... ich kann keinen ...“, er räusperte sich. Verdammt. Verdammt schade. Er setzte sein bestes Lächeln auf. „Für mich nicht. Danke.“
Jemand verteilte Blechteller. Dampfende Schüsseln. Brot. „Bitte!“ Eine Wasserschale mit einem lächelnden Mädchengesicht darüber, ein Handtuch. Raphael tauchte die Finger ein und rieb sie sorgsam sauber.
Amina.
Mit ihr hatte er auch hier gesessen, an einem anderen Tag, Bier in der Hand. Auf anderen Kissen, die jetzt verbrannt waren. Sie hatten geplaudert, als das Mädchen zwischen dunklen, schlanken Fingern ein mit Sauce gefülltes Reisbällchen formte, beiläufig und flink; hatten über den Brei gelacht, der aus Raphaels groben Händen gequollen kam, als er's ihr gleichzutun suchte. Die Pampe war auf seine Hose gefallen und er war aufgestanden und hatte die Hose notdürftig gesäubert und Amina hatte ihm geholfen.
„Danke“, sagte Raphael zu dem unbekannten Mädchen und gab das Handtuch zurück.
Der Geruch von Fleisch und Gewürzen mischte sich mit dem fauligen Dunst des Kanals. Raphael schob Aminas Bild weg. Selbst im Tod war sie noch hübsch gewesen. Er konzentrierte sich auf die Bewegungen seiner Finger und darauf, zuzuhören.
Flor musste ein Super-Chef sein, nach allem, was sie so sagten. Zahlte gut, hatte Verständnis für alles und jeden. Teilte sein Wissen. Wenn man ihnen Glauben schenkte, hatte er aus so manch einem beinahe einen Sternekoch gemacht. Auch aus Malouf. Besonders aus ihm. Raphael leckte Sauce von den Fingern. Gourmetfix brauchten sie hier jedenfalls nicht.
„Allah hat ihn geliebt“, sagte der schmale Junge mit den Narben.
„Wen?“ Raphael balancierte einen Reisball in den Mund, unfallfrei.
„Malouf. Er hatte so viel Glück ...“
Raphael schüttelte den Kopf. „Er ist tot, Youssouf.“
Die zu tief liegenden Augen starrten ihn an. „Du kennst meinen Namen?“ Raphael schluckte den letzten Rest Reis runter. „Ich bin Polizist“, erinnerte er behutsam. Bloß keine Psycho-Scheiße. Er war immer gerne der böse Cop gewesen.
Während sie aßen, beobachtete er Youssoufs Gesicht. In den Unterlagen hatte er Youssouf geheißen. Youssouf al-Halabi. Soweit er sehen konnte, war der Mann der einzige hier, der aus dem Container kam. Der einzige von denen, die damals registriert worden waren. Raphael hatte die Liste zwei Nächte lang memoriert. Warum wohnte der Mann noch immer in einer Flüchtlingsunterkunft? Und vor wem hatte er Angst? Vor den anderen? Vor ihm? Vor „der Polizei“? Vor Dovenhof? Vor Bertrand? Das Gesicht verriet nichts außer einem letzten Hauch mühsam niedergekämpfter Panik.
Wortlos beugte Raphael sich über seinen Teller. Schweigen war Gold.
Wäre Gold gewesen.
„Du hast ihn auch geliebt.“ Es war heraus, ehe Raphael etwas dagegen tun konnte. Verdammt. Er hustete. So hatte er das nicht gemeint. Jedenfalls nicht bewusst. Er drückte den Rücken durch. Früher wäre ihm das nicht passiert. Früher hatte er seinen Instinkt nicht auf der Zunge getragen. Sein Herz.
Er wartete. Alles, was geschah, hatte einen Sinn. Wenn er nicht mehr glauben konnte, dass alles, was geschah, einen Sinn hatte, dann ... Raphael kniff die Augen zusammen. Unauffällig rieb er seine Beine. Manchmal half es, ein bisschen wenigstens. „Er hatte eine Braut“, sagte Youssouf in diesem Moment.
Raphael entspannte sich. „Er hatte wirklich Glück.“ Youssouf nickte und lächelte sein trauriges Lächeln. Raphael berührte ihn vorsichtig am Arm. „Weiß sie, was passiert ist?“ Der Mann seufzte schwer und sagte nichts. Raphael sah ihn von der Seite an. Vielleicht war er zu weit gegangen. Weiß