Raphaels Rückkehr. Barbara E. Euler
lesen konnte. Keiner der Leute war länger als ein paar Wochen hier. Ein paar Monate allenfalls. Bis auf Youssouf. Keiner von ihnen verstand die alten Zeichen. Bis auf Youssouf vielleicht. Ein Brandfleck hier. Ein schlecht ausgebessertes Paneel da. Ein Vorhang, wo früher eine Tür gewesen war. Raphael legte die Arme um seinen Leib, weil plötzlich das Boot vor ihm erstand, wie er es gekannt hatte. Mit den Menschen, die dort gewesen waren. Amina. Amina.
„Der Brand. Damals. Auf dem Boot. Was wisst ihr davon?“, sagte er mühsam.
Welcher Brand? Sie wurden wieder unruhig. Der Mann mit der Gitarre verstummte. Ein paar Leute bauten sich vor ihm auf. Youssouf mahlte mit den Kiefern. Es war ein Fehler gewesen. „Ist lange her“, sagte Raphael, so gleichgültig wie möglich. Er kannte keinen hier persönlich, aber das musste er auch nicht, um zu wissen, was hinter ihnen lag. Vielleicht fühlten sie sich hier das erste Mal sicher, ein bisschen wenigstens, und sie würden nicht dulden, dass einer ihnen das zerstörte. Sie hatten alles überlebt und manche hatten dafür gestohlen und betrogen und vielleicht auch getötet.
Raphael setzte sich gerade. Zeit, zu gehen. Keinen Augenblick hatte er geglaubt, sie würden ihm vertrauen. Keinen Augenblick hatte er ihnen vertraut. Er hatte es sich nur gewünscht. So sehr gewünscht. Er zog ein neues Kärtchen raus. „Wenn euch noch was einfällt“, sagte er zum zweiten Mal. Es klang ziemlich harsch. „Danke für das Essen. Und für das Pflaster“, schob er nach, sanfter jetzt. „Und für den Tee … und die Dose …“ Er grinste matt und ein paar Leute grinsten zurück.
Muss man jemanden kennen, um Mitgefühl zu haben? Vielleicht war er zu lange in diesem Job. Vielleicht hatte er zu viel gesehen. Vielleicht hatte er mehr mit diesen Leuten gemeinsam, als er zulassen konnte. Vielleicht hatte er wieder mal alles kaputt gemacht. Er hatte zu viel gewollt. Er hatte immer zu viel gewollt.
Raphael sog heftig die Luft ein.
Alleine würde er das hier niemals schaffen.
„Bringt mich raus, bitte“, sagte er und sie trugen ihn an Land.
Er merkte nicht, dass ihm jemand folgte, als er Richtung Auto rollte, eine Belga im Mundwinkel. Einmal noch ließ er den Blick über das Glitzerwasser gleiten; über das alte Boot. Niemand stand an Deck, um ihm nachzusehen. Raphael pumpte Rauch in seine Lungen und hielt ihn. Er war der böse Cop und so fühlte er sich auch. Langsam atmete er aus, bis ihn ein Hustenanfall schüttelte, der ihn einen Moment stoppte. Hustend erreichte er endlich seinen Wagen und kletterte hinein. Er hustete immer noch, als er den Rollstuhl zerlegt und verstaut hatte und den Motor anließ. Er trommelte auf das Lenkrad, während er langsam das Handgas zog.
Warum. Warum waren sie so verschlossen. Begriffen sie nicht, dass sie in Gefahr waren? Warum vertrauten sie ihm nicht? Raphael biss sich auf die Lippen. Vielleicht steckten sie mit drin. Worin auch immer. Vielleicht hatten sie was zu verbergen.
Sie würden ihm nicht helfen. Sie konnten nicht.
Plötzlich stand dieser Mann vor ihm. Raphael rammte den Hebel rein, dass der Wagen quietschend zum Halten kam. Im ersten Moment begriff er nicht, dass es Youssouf war. Youssouf, ohne Visier. Youssouf, der Angst hatte. Und Mut. Raphael sah sich um, langte zur Beifahrertüre rüber und öffnete sie. „Schmeiß den Kram in den Kofferraum und setz dich!“, sagte er, ohne nachzudenken.
„Ich bin bloß … Zigaretten holen …“, keuchte der Afrikaner, während Raphael mit ihm davonbrauste. „Es ist gut“, sagte Raphael. „Es ist alles gut“. Er legte dem Mann die Hand auf die Schulter. „Was gibt’s?“ Er fühlte, wie der Mann zitterte.
Youssouf rang nach Atem. „Sie … Sie wissen nichts davon …“, stammelte er. Raphael steuerte zügig aus der Stadt raus, über die Scheepsdalebrücke Richtung Blankenberge, während er den Rückspiegel im Auge behielt. „… dass ich ein … Spion bin.“ Youssouf nahm die Zigarette, die Raphael ihm rüberreichte, und ritschte ein Dutzendmal mit dem Feuerzeug, bis er sie anbekam. Raphael rollte mit den Augen. „Ja?“, sagte er sanft.
„Der Tobi“, begann Youssouf stockend, während sie über den Blankenbergse Steenweg Richtung Norden rasten. „Ich treff’ mich einmal die Woche mit ihm. Oder wenn was Besonderes ist. Er hilft mir. Dass ich nicht zurück muss. Ich bin… solche wie mich… sie würden mich dort … du verstehst … “ Er schwieg. Raphael schwieg auch. Anna hätte jetzt gefragt, wer der Tobi ist. „Ich soll die Leute im Auge behalten“, fuhr Youssouf fort. „Auf dem Boot. Was sie reden. Wo sie hingehen. Wer zu Besuch kommt … Freunde … Polizei …“ Der Mann straffte sich. „Und wer gut kochen kann. Für Flor. Ich sehe sowas.“ Raphael nickte. „Das Essen heute, das war von dir, oder?“ Youssouf grinste zufrieden. „Hm …“
Raphael lächelte. Vertrauen. Er beherrschte jede Taktik, aber es kam immer wieder wie ein Geschenk. Wie ein Zauber. So unverdient. Und so flüchtig.
„Und der Tobi“, sagte er gedehnt, „kochst du für den auch?“ Youssouf schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne, aber er darf nicht an Bord.“ Raphael sah den Mann an. „Wegen dem Boss“, sagte Youssouf und knetete die Hände. „Ich kenne den nicht. Den Boss“, beantwortete er Raphaels stumme Frage. Dann schwieg er erschöpft.
Dankbar nahm er eine weitere Zigarette und rauchte schweigend.
Das war’s. Raphael seufzte. Er würde ein anderes Mal nach Tobi fragen. Er sah auf die Uhr. „Eins noch. Der Brand …“ Sie mussten zurück. „Was weißt du davon?“ Youssouf aschte in den überfüllten Aschenbecher. „Nur was Benne erzählt hat“, ein Lächeln schoss ihm über das Gesicht, wie eine Sternschnuppe. „Es war schlimm, aber er hat es wieder hingekriegt.“
„Benne?“, sagte Raphael, während er den Wagen wendete.
„Nein. Benne“, Youssouf hob die Hände und malte Rauchzeichen in die Luft. „Benne“, wiederholte er hilflos. „Ein Streetworker. Ein netter Mann. Er war dabei. Hat er gesagt. Als es gebrannt hat. Er hat versucht, zu helfen. Er hat gesehen, wie ein Mädchen ins Wasser sprang. Sie konnte nicht schwimmen. Er wollte sie retten. Er hat geweint. Benne. Wie er es erzählt hat.“ Youssouf quetschte die Kippe zu den anderen.
Raphael presste einen Moment lang den Ärmel auf die Augen, weil alles verschwamm. Youssouf sah ihn von der Seite an. „Es ist lange her“, sagte er leise. „Fast drei Jahre.“
„Danke, Youssouf“, sagte Raphael rau. Benne. Nein. Benne. „Benne wie?“, versuchte er es nochmal. „Be-nne“ korrigierte Youssouf. „Sprayen. Verbinden. Beobachten.“ Raphael umklammerte das Steuer. „Werner?“, fragte er ungläubig. Youssouf lachte erleichtert. „Benne! Ja! Er war so nett zu mir. Ich war ganz neu hier.“ Er wurde wieder ernst. „Eines Tages kam er nicht mehr. Er kam nie mehr.“
Werner H., Wunderdoktor. Streetworker. Protokoll folgt. Raphael biss sich auf die Lippen. Er würde ihn finden. Wenn er noch lebte, würde er ihn finden.
Vor der neuen Scheepsdalebrücke mit ihren schwungvollen weißen Designer-Auslegern fuhr er rechts ran. „Die Zigaretten“, sagte er. „Gehen die?“, er zog eine frische Schachtel aus der Westentasche und steckte sie wieder ein. „Nein“, er hatte Youssoufs Gesicht gesehen. „Falsche Marke. Warte.“ Er kurvte in die Stadt zurück und hielt vor einem Tabakladen. „Lauf!“ Dann chauffierte er den Mann zu den Ladekais zurück und parkte in einer Nebenstraße. Er taxierte die Umgebung. „Lauf!“, sagte er wieder. Die Luft war rein. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, Youssouf den Rahmen des Rollstuhls wieder aus dem Kofferraum holen zu lassen. Einmal hatte er das vergessen. Er hatte nachts einen Freund nach Hause gefahren. Gegen vier Uhr früh war er wieder in seiner Straße gewesen. Nur er.
Er erinnerte sich verdammt ungern daran.
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