Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I. Adalbert Dombrowski

Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I - Adalbert Dombrowski


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arme Mutter

      Gleich nach dem Fliegerlager fuhr ich mit dem Zug zu Mama. Piła gefiel mir nicht: überall leerstehende Plätze - nach von im Krieg zerstörten Gebäuden. Ihre Ziegelsteine wurden zur „Wiederverwertung” auf Zugwaggonen zum Wiederaufbau der Hauptstadt nach Warszawa gebracht. Im Zentrum, auf dem Platz der Freiheit (Heute ein Teil der Aleja Piastów), ragte ein großer Jugendstilaltbau fast schon einsam wie auf weiter Flur auf - wie durch ein Wunder hatte es den Krieg unversehrt überstanden: im Erdgeschoss eine Apotheke. Das Gebäude gehörte Wiktor Skibicki, Tante Anetas Ehemann: nicht allzu groß, höchst angenehmen und ruhig. Insbesondere seine hervorragenden Umgangsformen zeichneten ihn aus. Als Pharmazeut thronte er in seiner Apotheke, doch während der Zeit kommunistischer Regierungen sollte sie ihm - wie auch sein Mietshaus - noch viel Leid und Probleme einbringen. Vom Eigentümer der Apotheke wurde er zu ihrem angestellten Leiter, das Mietshaus „übernahm" die Kommune. In einem Teil ihrer alten Wohnung im ersten Stock über der Apotheke „durften" Wiktor und Aneta bleiben. Der Tante Mutter – Helena, also die Schwester meiner Großmutter Ludwika, hatte darin ein großes, eigenes Zimmer. Sie hatten zwei Kinder: die von mir um acht Jahre jüngere Bożenka sowie der um neun Jahre jüngere Jurek. Bożenkas lange Krankheit nahm sie fort, als sie gerademal einundzwanzig Jahre alt war. Sie musste sich verabschieden, von einer ihr noch unbekannten Welt.

      Mamas neue Wohnung in einem hässlichen Mietshaus in der Ludowa-Str. mit ebenfalls hässlichen und armseligen Möbeln desillusionierte mich sehr. Die beiden Zimmer zur Straßenseite hin waren zwar hell, die Küche sowie Mamas Schlafzimmer hingegen … stockdunkel - die Fenster zum lichtleeren Innenhof mit der Speicherkammer. In Piła eine Arbeit zu finden grenzte an ein Wunder, doch Mama war es gelungen eine Stelle in einer Fahrradfabrik zu bekommen. Ganze Tage verbrachte sie in Chemikaliendämpfen beim Lackiern von Fahrradrahmen. Ihre Gesundheit wurde zerstört, furchtbare Migränen begannen.

      Doch die Familie von Seiten meines Vaters hatte die Witwe und uns Kinder vergessen. Dass Edek, ein Mensch von solcher - so genannter – Stellung eines der Kinder zu sich genommen hatte, genügte, um das familiäre Gewissen der Familie Dąbrowski einzuschläfern. Das für sie wichtigste war geregelt, dass Onkel Bolesław vor dem Tod meines Vaters die Grundbuchabschrift über den Grundbesitz wiedererlangt hatte. Vorsorglich hatte er ihn an Fabian überschrieben, um das Vermögen vor Gläubigerverlangen zu bewahren. Mit ihrer Unbekümmertheit und Verschwendungssucht hatte des Onkels Ehefrau nämlich Schuldenberge angehäuft. Onkel Boleś war ein guter Mensch, doch seine Frau tyrannisierte die Familie: „ein Teufel in Menschengestalt”. Nach der Umschreibung des väterlichen Erbes auf Bolesław blieben seine Eltern mit lebenslangem Nutzungsrecht auf dem Hof. Doch ihre Schwiegertochter begegnete ihnen mit widerlicher Boshaftigkeit. Sie stritt mit den Greisen, beschimpfte sie und während einer längeren Abwesenheit ihres Mannes sperrte sie sie in ihrer Stube ein, indem sie ihnen mit einem hölzernen Schweinetrog ihre Zimmertür zum Hausflur zunagelte. Onkel Józef kam sofort nach Zembrze und baute seinen Eltern einen direkten Ausgang aus ihrer Stube. Daraufhin zerschlug die Tante vor Ärger das gesamte Tafelporzellan. Gercia erzählte, dass sie für ihre Niederträchtigkeit, wie sie ältere Menschen behandelte, von Gott bestraft wurde, sie starb qualvoll. Doch dies angerichtete Leid war nicht wieder gut zu machen. Mit solch einer Ehefrau war Onkel Boleś nicht in der Lage, Fabians Witwe zu unterstützen. Mama musste alleine zurecht kommen mit zwei Kindern, wobei Rysia trotz ihrer fünfzehn Jahre keine große Unterstützung war. Eher bereitete sie zusätzliche Sorgen und Probleme. Die kleine Żaba war häufig von ihrer älteren Schwesters Gnade abhängig.

      Mittlerweile war ich in Piła angekommen, durch die Haustür und dann nach rechts, die Erdgeschosswohnung: dunkel und überall feucht ist es im Haus. Die Wohnungstür stand offen, ich ging hinein und hörte Żabas Weinen, Rysias Geschrei. Sehr gut kannte ich den Charakter meiner älteren Schwester, also wusste ich sofort, was los war. Sie bewies dem Kleinkind ihre Überlegenheit. Ich fiel ins Zimmer, befreite das kleine Mädchen und warf Rysia zu Boden. Mit meinen Knien drückte ich ihre Hände zu Boden, dass sie sich nicht bewegen konnte. Mit meinen Fingern berührte ich ihr Gesicht und sagte leise aber ausdrucksstark: „Wenn Du noch einmal Hania anfasst, dann schlage ich Dich zusammen, dass Du aussehen wirst wie ein verfaulter Apfel. Ich warne Dich!” Rysia hat die Drohung verstanden, eine vergleichbare Situation wiederholte sich nie wieder. Ehe ich nach Bydgoszcz zurückkehrte, hackte ich für Mama noch den Holzvorrat für den ganzen Winter und räumte die Kohle, die noch vor dem Haus lag, in den Keller.

      Die wunderbare Frau Marta

      Es war ein wunderschöner, warmer Herbst. Einige Monate musste ich noch aufs Gymnasium in Bydgoszcz gehen. Tante Ola war zu Besuch. Sie half Basia bei den Umzugsvorbereitungen. Nach arbeitsreichen Tagen, spielten die Erwachsenen abends meistens Bridge. Eines Tages war Tante Olas gute, schon lange nicht mehr gesehene Bekannte Marta mit von der Partie. „Marta spielt hervorragend Bridge, also brauchen wir nicht mehr mit edem „Opa” spielen”, fügte sie hinzu und alle setzten sich an den Tisch. Marysia brachte Tee und hausgemachtes Kleingebäck. Basia mischte und verteilte gekonnt die Karten. Ich saß daneben und beobachtete das Spiel oder eher die vierte Person. Nur schwer konnte ich sie nicht anschauen, sie zog meinen Blick förmlich an. Sie war sehr hübsch, unglaublich nett und lachte mich wunderbar an. Ich setzte mich auf die Armlehne des Sessels und tat so, wie wenn ich das Spiel beobachten würde. Auf die Frage des Gastgebers hin nach ihrer Arbeit erklärte sie ausführlich was sie macht und beschrieb dann detailgetreu, wo sich ihr Büro befindet, fügte sodann hinzu, dass sie von ihrem Schreibtisch die eintretenden Antragsteller sehe. Dabei blickte sie wie nebenbei zu mir, so, dass mich ein Gefühl überwältigte, diese Beschreibung sei nur für mich.

      Am nächsten Tag folgte ich Frau Martas Wegbeschreibung. Außen an dem neuen Bürogebäude - einem mehrstöckigen Pavillon - stieg ich die Treppen hinauf in der Hoffnung, von dieser interessanten Frau bemerkt zu werden. Plötzlich öffnete sich eine Tür: lächelnd stand Frau Marta vor mir. Ja, sie lächelte tatsächlich mich an! Wir begrüßten einander und ich hörte, worauf ich unterbewusst gehofft hatte: „Im Grunde kann ich jederzeit die Arbeit verlassen, also könnten wir außerhalb der Stadt fahren und uns ungezwungen unterhalten.” Mit ihrer Syrenka, diesem Wunderwerk der Motorisierung fuhren wir die Gdańska-Str. immer geradeaus, bis hinter die Bahngleise in einen kleinen Wald. Bezaubert hörte ich zu, wie Frau Marta sprach und sie sprach unaufhörlich, während sie den Wagen lenkte. Wir parkten an einer Waldlichtung und aus dem Kofferraum holte Frau Marta eine Decke, welche sie auf der Wiese ausbreitete. Wir setzten uns und plauderten nett. Ohne den Faden zu verlieren, verlor sie ebensowenig Zeit. Ihre Hand bewegte sich sanft auf meinem Oberschenkel, immer höher und höher, während ihre zarten Finger mit schmetterlingsähnlichen Berührungen meine Hose aufknöpften. Solche Ausflüge wurden unsere bevorzugte Freizeitbeschäftigung, bis ich nach Warszawa umzog.

      Umzug nach Warszawa

      Den gesamten Umzug erledigte der Onkel: Die Sachen wurden verpackt, die Laster fuhren davon. Basia, Marysia und ich fuhren mit dem Zug. Vom Hauptbahnhof fuhren wir mit der Straßenbahn nach Muranów. Am Banken-Platz stiegen wir aus (zu Zeiten der Volksrepublik Polen – 1944-1989 – war dies der Dzierżyński-Platz mit seinem Denkmal; benannt nach Feliks Dzierżyński, dem Gründer des sowjetischen Terrorapparats, dem ersten Leiter einer sowjetischen Geheimpolizei, welche – nicht nur in Polen - Massenmorde an sog. „Volksfeinden” zu verantworten hat: an der politischen Opposition, sog. „klassenfremden” Gutsbesitzern, Unternehmern und Geistigen; auf diese Weise verdiente er sich seine Spitzennamen „blutiger Feliks” oder „roter Henker”; bei seinem Begräbnis trugen u.a. Stalin und Trocki seinen Sarg; ein viel sagender Ausspruch Stalins lautet: „Keine Menschen, keine Probleme”.) und gingen am Mostowski-Palast vorbei zum ersten Gebäude der neu entstehenden Wohnsiedlung Muranów, zur Nowolipiki-Str. 9. Hinter dem Haus erstreckte sich der Blick über das dem Boden gleich gemachte Warschauer Getto, nur der Turm der St. Augustin Kirche war als einziger zu sehen am Horizont der tragischen Eintönigkeit und erinnerte an die Tragödien, welche hier stattgefunden haben. Die grausam verkrüppelte Hauptstadt, voll von Stümpfen ausgebrannter Gebäude, pulsierte aber wieder mit Leben. Überall sah man Baustellen, neue Siedlungen, Verkehrswege und Straßen wurden abgesteckt. Die neue Wohnung erinnerte in keinster Weise an die in Bydgoszcz: drei Zimmer, Küche und Bad, doch die Zimmer waren klein und niedrig - ein typisch sozialistischer Neubau. Zwar war diese Wohnung zu klein,


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