Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I. Adalbert Dombrowski
fragte er und sah mich an. Ich zog die Blätter raus und erklärte ihm mein Problem. Franek lachte, nahm einen Bleistift und fragte: „Was soll ich zeichnen?“ Schnell zauberte er mit seiner geübten Hand schneebedeckte Berge und Fichten mit Schneemützen, auf gefrohrenen Seen Schlittschuh laufende Kinder, ein Mädchen mit Hund und einen auf einer Parkbank sitzenden Schneemann hervor. Im Handumdrehen entstand eine Zeichnung nach der anderen. Nun durfte ich in die vierte Klasse!
Endlich waren meine ersten echten Sommerferien da! Auf uns Pfadfinder wartete ein Törn nach Dziwnów und dort das Pfadfinderlager: – echte Militärzelte mit Pritschen. Es gab auch eine militärische Feldküche; am Rand des Lagers befand sich im Wald die Latrine, d.h. ein im Sand ausgehobener Graben und darüber eine lange Holzlatte, auf die man sich setzte. Eine weitere Latte etwas höher, diente als Rückenlehne. Das Lager bestand im Grunde aus einem Jungen- und einem Mädchenlager. Nachts pirschten wir uns ins Mädchenlager, um ihnen die Seile ihrer Zelte loszumachen. Das Geschrei war unglaublich und wir hatten einen Heidenspaß. Unsere Freundinnen wollten es uns heimzahlen, doch wofür gibt es Wachmänner!?
Am meisten Spaß machten Nachtwanderungen, bei denen wir mit dem Kompass navigierten. Wald- und Strandwanderungen sowie Übernachtungen in eigenhändig erbauten Hütten waren fantastische und unvergessene Abenteuer. Hier verliebte ich mich in das Vagabundenleben - eines echten „Włóczykij“ [wutschickie-j].
Das Sommerlager ging zu Ende, doch Ferien in Kamień Pomorski boten unabhängig davon eine Menge Attraktionen. Meine schwimmerischen Fähigkeiten perfektionierte ich von Tag zu Tag. Das war nicht mehr so ein Schwimmen wie im Głęboczek, als ich Papa zeigen wollte, wie gut ich schwimmen kann. Damals im „Känguru-Stil“: dabei stößt man sich mit einem Bein vom Boden ab und springt wie ein Känguru, während man mit den Armen das Wasser auseinander treibt. Interessiert beobachtete Papa meine Anstrengungen, während Rysia mich boshaft auslachte. Diesen Stil kannte sie hervorragend. Sie schwamm genauso.
Jeden Tag waren wir an der Hafenmole, zogen uns aus, legten unsere Sachen sorgsam auf einen Balken der Molekonstruktion und sprangen nackt ins Wasser. Wir sprangen von den hervorstehenden Brettern kopfüber oder auch mit dem Gesäß voran. Das Wasser spritzte nur so. Wir lachten viel. Doch als wir mal wieder im Wasser herumtobten, hatte unser Kumpel Jakub eine blöde Idee. Als er eine Gruppe Mädchen in Richtung Mole gehen sah, versteckte er unsere Sachen, doch was noch schlimmer war, er verriet es den Mädels. Wir sahen die Mädchen kommen und wollten uns anziehen ... . Kichernd ärgerten sie uns und wir Armen, versteckten uns im Wasser, im Schatten der Mole. Lange dauerte es, bis Jakub uns die Sachen zurückbrachte. In der Zwischenzeit war uns ordentlich kalt geworden. Daraufhin schlossen wir den Verräter aus unserer Klicke aus. Dennoch folgte er uns die ganzen verbliebenen Sommerfeien, langweilte sich jedoch ungemein.
Der Herbst überraschte uns mit starkem Wind von der See: kalt und nass. Dauernd pfiff er durch die Spalten in den Fenstern und Mama klagte, dass sie davon Kopfschmerzen bekam. Sie hielt das Geheule nicht aus.
Mal wieder war ich mit den Jungs szabern gegangen. Von weitem sahen wir eine große Menschenmenge. Aus und in ein kleines Häuslein strömten Leute, Frauen flüsterten einander zu. Etliche trockneten ihre Augen mit dem Taschentuch. Neugierig näherten wir uns. Sie sprachen von einem Mann, der Selbstmord begangen hatte. Er hat sich in den Kopf geschossen, weil das Leben für ihn keinen Sinn mehr hatte ohne sein geliebtes Mädchen: Sie wollte ihn nicht.
Wir gingen in den ersten Stock. Im Sarg lag ein junger Mann mit einem Mull-Verband, welcher die Verletzung an der Schläfe verdeckte. Schwarz gekleidete Familienmitglieder standen daneben. Das Mädel, das die Liebe zurückgewiesen hatte heulte. Vor Verzweiflung wankte sie so sehr, dass zwei Frauen sie stützen mussten. „Warum flennt sie jetzt so, wenn sie ihn eh nicht wollte? Wegen ihr lebt er doch nicht mehr“, dachte ich naiver Weise. Einen furchtbaren Eindruck machte auf mich der erste nahe Anblick des Todes. Als unser Urgroßvater Piotr gestorben war, taten die Erwachsenen alles, damit wir den Verstorbenen nicht sahen und dass wir am Begräbnis nicht teilnahmen. Auch meine Freunde wurden ungewöhnlich schweigsam und wir hatten keine Lust mehr aufs szabern. Wir gingen heim.
Zu Hause war uns ein großer Hund zugelaufen und Mama war damit einverstanden Burek aufzunehmen. Er wurde mein treuester Freund und folgte mir überall hin; sogar wenn wir mit den Jungs Steine auf die Häuser der Deutschen werfen gingen. In Kamień Pomorski waren einige deutsche Familien geblieben, aber niemand mochte sie. Ihnen wurde alles Kriegsleid zur Last gelegt. Sie taten mir leid, denn ich glaube nicht, dass gerade diese Leute etwas verschuldet hätten. Meine Freunde erzählten mir von viel Grauen, das die Deutschen während des Krieges begangen haben, doch in meinen kindlichen Kopf passten diese Geschichten nicht hinein. Ich konnte sie nicht glauben, denn sie erschienen mir zu grausam, so dass sie bestimmt erfunden waren. Trotzdem warf ich auch mit Steinen.
Der Winter kam, Schnee war gefallen und es war eiskalt. Bis nach Dziwnów konnten wir nun über die zugefrohrene Bucht Schlittschuh laufen! Nicht nur Schlittschuhe hatte ich, auch einen Schlitten und sogar ein Fahrrad. Alles vom szabern! Mein großartiger, starker Hund zog den Schlitten voller echtem Enthusiasmus, für den ich selbst gesorgt hatte. Ich saß auf dem Schlitten und hielt einen langen Stock, an dessen Ende an einer Schnur ein Stück Wurst baumelte - direkt vor Bureks Schnauze. Er rannte um sie sich zu schnappen. Das Gespann anzuhalten war einfach: lediglich dem Hund die Wurst wegnehmen. Damit machten wir Furore unter meinen Kumpeln. Bei Rysia nicht, sie war lieber zu Hause und laß Bücher. Abends regte sie mich auf, weil sie das Licht nicht ausmachte und ich so nicht einschlafen konnte. Zumindest nahm sie irgendwann eine Taschenlampe mit unter die Decke, um weiter in ihrer Lektüre stöbern zu können.
Weihnachten 1946: Wir hatten einen wunderschön geschmückten Weihnachtsbaum und Papa war jetzt öfters bei uns. Begeistert hatte ich Papa von dem Kino erzählt, das in die Stadt gekommen war. Eines Abends besuchte ein Bekannter Papa und Mama zog mich warm an. Mein Traum eines Kinobesuchs stand kurz davor in Erfüllung zu gehen. Wir gingen in die Dunkelheit, mitten auf der Straße, am Nachthimmel funkelten Millionen Sterne und der Schnee knirschte unter den Füßen. Der Frost erschwerte das Atmen. Den ganzen Weg unterhielt sich Papa mit seinem Bekannten. Ich trippelte nebenher und bemühte mich, mit den Männern Schritt zu halten. Etwas übergangen fühlte ich mich. Im Kino war es voller Leute, ein Bekannter hatte uns erkannt und winkte uns zu sich auf drei freie Plätze in der Mitte der Sitzreihe. Mit einem Druck auf meine Schulter lenkte mich Papa in Richtung der für uns reservierten Plätze. Ich schaute auf die große, weiße Leinwand und drückte mich langsam durch die Reihe. Plötzlich rief mich Papa zurück. Er war an der Seite der Reihe stehengeblieben. Verwundert stolperte ich wieder zurück über die Beine der Sitzenden. Wortlos griff Papa mich an den Schultern, drehte mich um, mit dem Gesicht den Kinobesuchern in unserer Sitzreihe zugewandt und schob mich leicht an, um mir zu verstehen zu geben, wie ich zu meinem Platz gehen sollte. Auf diese Weise trichterte er mir für mein ganzes Leben einen Grundsatz anständigen Verhaltens ein.
Schule, Ferien, Schule, die Zeit lief ihren ausgetretenen Pfad entlang. Die zweiten Nachkriegs-Weihnachtsfeiertage waren gekommen. Mama hantierte in der Küche umher. Im ganzen Haus duftete es nach Kuchen. Auf den Tisch mit weißer Tischdecke stellte sie das feierliche Porzellangeschirr sowie einen kleinen Teller mit der traditionellen Oblate; kurz vor dem Abendessen dann die Schüsseln und Platten voll weihnachtlicher Leckereien. Unsere Augen lachten diese Pierogi, Kuchen und andere Speisen an. Der Tradition entsprechend waren es zwölf. Der Magen knurrte schon, so dass wir zusammen mit Rysia und der kleinen Żaba ungeduldig Ausschau hielten nach dem ersten am Nachthimmel zu erkennenden Stern. Der weihnachtlich gedeckte Tisch war wunderschön. Sich an ihn zu setzen war die Krönung des ganzen Tages, des ganzen Jahres und eigentlich sogar vieler vorangegangener Kriegsjahre! Wir waren alle zusammen: Papa, Mama und wir.
Papa arbeitete außer Haus und kam selten heim. Damals nutzte ich eifrig seine Abwesenheit aus und zog regelmäßig in das elterliche Schlafzimmer um. Angenehm war es mit dem Wissen einzuschlafen, dass Mama neben mir ist. Eines Nachts weckten mich aus meinen glückseligen Träumen Mamas Geflüster und leises, ganz ungewöhnliches Lachen sowie Rascheln der frisch bezogenen Bettdecke.
„Leise, Du weckst Wojtek auf“, hörte ich Mama.
„Ich weck ihn nicht auf, er schläft tief“, brummte Papa und das Bett quietschte.
„Aha!