Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I. Adalbert Dombrowski
Zeit für uns. Nachdem er der erste Nachkriegs-Bürgermeister von Tuchola geworden war, besuchten ihn ständig irgendwelche Leute. Gewöhnlich saßen sie am großen Tisch im Arbeitszimmer. Wir durften sie nicht stören. Also liefen wir zu den Großeltern; dort war es interessanter und fröhlicher. Wir streunten durch von Deutschen verlassene Wohnungen. Trippans alte Wohnung (1.Stock) nahmen russische Frontsoldaten ein. Sie hatten Tuchola erobert. Verschmutzt und erschöpft lagen sie querbeet. Trotz eisiger Kälte waren die Balkontüren geöffnet. Ich war dabei, als Trippans alter Wecker zu klingeln begann und einen nebendran schlafenden Soldaten weckte. Erzürnt warf er ihn durch die Balkontür und schickte bei der Gelegenheit einige Schüsse hinterher. Doch nicht nur Wecker riefen Erregung hervor bei den Russen. Von fließendem Wasser aus der Wand waren sie ganz begeistert. Ihr Verhalten veranschaulichte die Primitivität und Habsucht der russischen Soldaten. Nichts war vor ihnen sicher: sie klauten alles. Passanten, die ihre ersten Fahrversuche auf Fahrrädern beobachteten, krümmten sich vor Lachen, während diejenigen, deren Fahräder sie sich einfach genommen haben, protestierten oder weinten.
Opa Kazimierz erzählte von einer unglaublichen Begebenheit:
„Ich traf auf einen guten Bekannten und fragte ihn nach der Uhrzeit. Er erwiderte, dass er seine Armbanduhr versteckt habe vor den Russen und hob vorsichtig aber stolz sein Hosenbein an. Im selben Augenblick kam ein russischer Soldat des Weges: er war gerade dabei, angestrengt die Kunst des Fahrens auf einem gestohlenen Fahrrad zu erlernen. Als er die Armbanduhr am Fußgelenk sah, sprang er herab und ließ das Fahrrad links liegen. Er kam zu meinem Bekannten gerannt und schrie: Daj mnie nożne czasy (Gib mir die Beinbanduhr)! U mienia ich mnogo, ale żaden nożny (Ich habe viele Uhren, aber keine fürs Fußgelenk)! Daraufhin zog er aus seinen Taschen die unterschiedlichsten Uhren, drückte sie meinem Bekannten in die Hände und verlangte im Austausch diese einzigartige Beinbanduhr. Mit dieser weiteren, diesmal auch noch so ungewöhnlichen Beute verschwand er zufrieden hinter der nächsten Ecke. Der glückliche neue Besitzer eines guten Dutzends Uhren stellte fest, dass er soeben das beste Geschäft seines Lebens gemacht habe!“
Nach einigen Tagen zogen die russischen Soldaten weiter, „nach Berlin“, sagten sie. Alle atmeten auf, doch nicht für lange, denn es kamen andere Russen: sie brachten Straflager und ein uns fremdes politisches System.
Meine Großeltern hatten alle Wertgegenstände versteckt vor den diebischen Soldaten, was sie dennoch nicht vor Schaden bewahrte. Eines Tages im März klopfte ein adrett gekleideter sowjetischer Offizier an die Wohnungstür meiner Großeltern. Er salutierte und teilte ihnen mit, dass sie ausziehen müssten, da die Armee ihre Wohnung beansprucht: „Nur für eine Woche, vielleicht zwei und ihr werdet zurückkehren können“, sagte er und als Oma damit begann eilig die kleinsten Dinge einzupacken, fügte er hinzu, „bitte lassen Sie alles hier, nichts wird verloren gehen.“
Gerade war mein Kumpel Edek mit seinen Eltern, den Herrschaften Rybicki, in ihr Haus in der Świecka-Str. 73 am Stadtrand von Tuchola zurückgekehrt - ein zweistöckiges Gebäude mit Dachgeschoss. Die Eigentümer zogen ins Obergeschoss, meinen Großeltern boten sie einen Raum im Erdgeschoss an, für die paar Tage.
Mit kräftiger, entschiedener Stimme hatte mich Papa zwischenzeitlich – wegen eines weiteren meiner Streiche - solange unter Hausarrest gestellt, bis ich das kleine Einmaleins auswendig konnte. „Er meint es ernst“, dachte ich mir. So setzte ich mich gehorsam auf meine vier Buchstaben und begann zu büffeln. Als ich fertig war, fragte mich Papa ab. Ich war frei, endlich konnte ich hinters Haus. Dort an den Bahngleisen stand das Wrack eines echten russischen Panzers. Edek wartete schon auf mich. Wir stiegen in dieses unglaubliche Gefährt und schauten uns neugierig um. „Hier ist Munition“, schrie ich begeistert.
Von nun an gingen Edek und ich nach Schulschluss schnurstracks zu unserem Wrack. Stundenlang spielten wir in ihm. Wir zogen Geschosse aus dem Panzer und schlugen sie gegen Steine, um die langen Schießpulversäckchen herauszuziehen. Sie erinnerten an trockene Nudeln. Doch was sollten wir damit? Sie brannten nur schlecht. Dass der Panzer zusammen mit uns nicht in die Luft geflogen ist, wundert mich bis heute.
Außer Panzerwracks standen auch verlassene, beschädigte Lastwagen umher. In alle Schlupfwinkel ihrer Fahrerkabinen krochen wir hinein. Eine tragbare Kurbelsirene, die ich dort fand, interessierte mich nur kurz, so dass ich sie zügig gegen ein Paar wunderbare Rollschuhe eintauschte. Von da an hallte das charakteristische Rattern durch ganz Tuchola. Ich war überall. Sich auf Rollschuhen fortzubewegen war unheimlich kompliziert, denn die Straßen bestanden hauptsächlich aus Kopfsteinpflastern und Gehwege waren weit davon entfernt, eben zu sein. Doch irgendwann begeisterten mich auch die Rollschuhe nicht mehr. Ein Junge hatte wunderbare Holzski mit einer Seilzugbindung. Davon träumte ich schon lange. Bis zum Winter wars noch lange, dennoch tauschte ich sofort meine Rollschuhe ein.
Derweilen war Mamas Bruder Edek Biskup nach Tuchola gekommen. Er wollte nicht zurück in die zerstörte Warszawa. Seine Arztpraxis eröffnete er im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses. Selbst zog er mit seiner wunderhübschen Frau Barbara Gilewska ins 1.OG. Tante Barbara (Basia) war Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. In den Jahren 1931-1934 trat sie unter anderem an den Revue-Theatern „Qui Pro Quo“ und „Morskie Oko“ in Warszawa auf. Bekannt wurde sie durch ihre Rollen in den Filmen ”Pieśniarz Warszawy” (Der Sänger von Warszawa) und „Kochaj tylko mnie” (Liebe nur mich). An der Seite von Filmgrößen wie Jadwiga Smolarska oder Eugeniusz Bodo trat sie auf. Bodo wurde im Zweiten Weltkrieg aufgrund falscher Anschuldigungen als „Spion des Westens“ vom sowjetischen NKWD verhaftet, verhört und in ein russisches Straflager gebracht, wo er Hunger und Erschöpfung erlag.
Im Salon bei Tante und Onkel thronte der Flügel an dem Tante Basia Melodien komponierte. Ab und an begleitete sie Onkel Edek aus dem Gedächtnis und stichelte sie dann scherzhaft: „So spielt man!“
Tante Basia sang wunderschön. Ich hatte sie sehr gern, weshalb ich oft bei Tante und Onkel war. Manchmal blieb ich zu Mittag. Eines Tages kam Onkel Edek aus seiner Praxis direkt ins Esszimmer. In der Hand hielt er ein metallisches Geschirr, eine sog. Nierenschale. Von organisatorischen Fragen vereinnahmt setzte er sich an den Tisch und stellte dieses Geschirr neben seinen Teller. Ich warf einen Blick drauf und sah, dass zwei menschliche Finger drin lagen. Der Onkel hingegen achtete nicht weiter drauf. Er aß sein Mittagessen und den Dessert, stand auf, nahm die Nierenschale mit samt ihrem Inhalt und verschwand wieder. Meine Großeltern kehrten nicht mehr zurück in ihre Wohnung im dritten Stock. Die sowjetische Armee hatte die Wohnung zwar verlassen, doch als meine Großeltern sie betraten sahen sie lediglich Spuren der Gemälde und Möbel an den verschmutzten Wänden. Omas geliebte, schöne Möbel, das Tafelservice, die Bettwäsche, einfach alles wurde in den Osten gebracht; irgendein Offizier wahrscheinlich hat sich mit unseren Einrichtungsgegenständen sein zu Hause verschönert.
Tage und Wochen vergingen während das Leben dabei war, seine verloren gegangenen Gleise wiederzufinden. Etwas jedoch hatte sich zu Hause verändert. Unbeschwert konnte ich nun in all unseren Zimmern umhertoben. Papa war nicht da, Gäste kamen keine mehr zu Besuch. Mama war ganz anders und weinte häufig. Was war passiert?
Papa war verhaftet worden. Er hatte das Bürgermeisteramt verloren, weil er sich mit den Russen nicht einigen konnte. Die anfängliche „Freundschaft“ offenbarte ihr wahres Gesicht. Es fielen Dinge vor, für die mein Vater kein Verständnis fand – nicht zuletzt trat er auch gegen das Unrecht der Wohnungsausräumung bei seinen Schwiegereltern ein.
Mama und ich wollten Papa im Gefängnis (gegenwärtig das Gebäude der Staatsanwaltschaft) besuchen. Der Wachmann öffnete uns das große Eingangstor, ließ uns aber nicht unseren Besuchstermin wahrnehmen. Wir gingen zu den Großeltern, wo wir alle auf dem Boden niederknieten um zu beten: „Erbarme Dich unser“, wiederholten wir immer wieder – die Knie schmerzten schon lange. In Tuchola sah ich meinen Vater nie wieder.
Ich zog zu Tante Basia und Onkel Edek - traurig war ich deshalb aber nicht. Aus Wrocław war zu ihnen Tantes Neffe gekommen. Ich freute mich über meinen neuen Freund. Grzegorz erwies sich als ein äußerst sympathischer und intelligenter Junge. Er war ein paar Jahre älter als ich. Eines Tages setzte uns Tante Basia gleich nach dem Mittagessen aufs Sofa und begann mir zu erklären, weshalb ich bei ihnen und nicht in meinem Elternhaus bin: Papa sei aus dem Gefängnis entlassen worden unter der Bedingung, dass