Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I. Adalbert Dombrowski

Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I - Adalbert Dombrowski


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dass ich zu ihnen dazustoße. „Alleine lass ich Dich nicht, aber unter Grzegorzs Aufsicht, ist das etwas anderes“, beendete sie ihren Monolog.

      Schon wenige Tage später packte Tante Basia unsere Sachen in kleine Pappkoffer. Selbstverständlich nahm ich meine Ski mit. Onkel Edek fuhr uns mit seinem schwarzen Automobil zum Bahnhof und kaufte uns Fahrkarten. Am Bahngleis fuhr eine enorme Lokomotive mit einer Schnur an Waggons vor. Sie keuchte, Rauch stieg aus ihrem Schornstein auf. Der Onkel setzte uns ins Abteil und unter Aufsicht meines älteren Freundes fuhr ich zu meinen Eltern; ins fremde Kamień Pomorski.

      Die Fahrt dauerte lang. Eilig betriebsam schleppten Menschenmassen ihr Hab und Gut in Koffern und Paketen mit sich: erschöpfte Menschen. Es war eine Völkerwanderung! Nach mehrmaligem Umsteigen und einem wunderbaren, heißen Tee mit darin umher tanzenden Zitronenflocken, setzte sich unser Zug Szczecin-Stargrad für die letzte Etappe unserer Reise in Bewegung. Bei jedem Halt wurden die Abteilstüren sperrangelweit geöffnet. Fahrgäste kamen und gingen mit ihrem ungewöhnlichen Gepäck. Gregorz und ich setzten uns ans Fenster, dennoch ließ uns dieses Gewusel nachts nicht schlafen. Tagsüber sogen wir dafür förmlich die sich vor unseren Augen verschiebenden Landschaften auf. Ich konnte nicht mehr sitzen und musste auf die Toilette, also kämpfte ich mich den Durchgang entlang durch die aneinander gedrängten Reisenden und ihr Gepäck. Durch das Türfenster des letzten Waggons beobachtete ich die Gleise. Wir fuhren über eine Brücke - über die Oder; eine furchteinflößende Brücke. So unendlich lang, nur aus Gleisen, die nur auf einer schmalen Unterlage befestigt waren. Wie wenn diese Unterlage schweben würde über dem faul dahinließenden grauen Fluss. So zart war diese kunstvolle Konstruktion, dass sie unter dem tosenden Zug jeden Augenblick mit uns in den Fluss stürzen könnte. Ich hatte ganz vergessen wofür ich mich bis hierher durchgekämpft hatte. Es war eine lange Reise, meine Erinnerungen daran verschwimmen mit dem monotonen Zugrattern. Das letzte Stück nach Kamień Pomorski, bis zur verlassenen Ruine seines stilechten Bahnhofs fuhren wir mit dem Pferdewagen. Die Russen hatten die Bahngleise, welche die Ortschaft mit der Welt verbindeten mitgehen lassen.

      Mein geliebtes Kamień Pomorski

      Mama und Rysia erwarteten uns. Nach einem kurzen Marsch durch die menschenleeren Straßen erreichten wir unsere Wohnung: drei Zimmer und eine Küche im zweiten Stock; in einem der drei Grundschulgebäude – gegenwärtig die Jan-Długosz-Str. Nach einiger Zeit wurde Grzegorz abgeholt, zurück zu seiner Mutter, die nicht nach Warszawa zurückgekehrt war, sondern sich in Wrocław wiedergefunden hatte. Zwar verliefen entlang der Schule Bahngleise, doch hier fuhren keine Züge. Etwas weiter entfernt befanden sich Gebäude und Anlagen der Lokschuppen. Die Gebäude standen leer. Genau hierhin zog es uns Jungs, umso mehr, da es beim Lokschuppen ein Kran zum Beladen der Dampflokkohlewägen gab. Er erinnerte an ein Karussell und so nutzen wir ihn auch. Eine Reihe Wägelchen stand auf der Schmalspur, die zur Kohleverladestelle führte. Wir hoben das mit einem Stahlseil an den Kran befestigte Wägelchen an. Wie man einen Eimer aus dem Brunnen mit einer Kurbel herauszieht, gab es hier zwei Kurbeln, an denen je zwei Jungs benötigt wurden, um das Wägelchen, in dem der Glückliche saß, anzuheben und das Karussell drehen zu können. Mit Sperrklinken wurden die Kurbeln gesichert. Aus ganzer Kraft schoben wir nun den Wagen an. Jeder wartete auf seine Reihe, um dieses faszinierende Kettenkarussell zu erleben. Doch eines Tages rutschte mir beim Anheben des Wagens die Kurbel aus den Händen, brach mir die Finger meiner linken Hand und schnitt die Haut auf. Mit einem Lappen verband ich meine Hand, damit man das Blut nicht sah, damit die Eltern davon nicht erfuhren. Ihr Gerede, ihre Verbote und Einschränkungen meiner Freiheit brauch ich nicht. Meine Hand verheilte, doch ein Finger ist bis heute krumm gebliben, denn so wollte es die Natur. Meine Eltern haben nichts von alledem mitbekommen. Sie waren von den außergewöhnlichen Nachkriegsjahren vollends in Anspruch genommen.

      Rysia und ich besuchten die nahe gelegene Schule. Ich kam in die zweite Klasse, jedoch beschlossen die Lehrer nach einiger Zeit mich in die dritte Klasse zu versetzen. Zwar war ich viel jünger als die anderen Drittklässler, doch der Unterbrechung ihrer Schulzeit des Krieges wegen, hatten sie viel aufzuholen. Außerdem versprachen sich die Lehrer von meiner Höherstufung, dass mich der Einfluss meiner älteren Mitschüler zügeln würde. Und tatsächlich, in der Schule trieb ich keinen Unfug mehr, dafür boten mir die älteren Jungs Zigaretten an. Doch es sollte nicht sein, dass ich in die Fänge der Sucht falle. Den stickigen und brennenden Rauch empfand ich abstoßend.

      Papa war nur selten zu Hause. Er hatte viel zu tun, da er in der Aufsichtsbehörde des Bildungswesens Szczecin den Wiederaufbau des Schulwesens in der gesamten Wojewodschaft verantwortete. Außerdem organisierte er Lehrerseminare für zukünftige Pädagogen. Währenddessen erwartete Mama ein weiteres Kind. Niemand hatte Zeit, auf mich aufzupassen. Einem Jungen gefällt das natürlich. Denn damals war ich wie all meine Freunde in den Fängen einer neuen Leidenschaft gefangen. Gleich nach der Schule hörte man es flüsternd: „Wir gehen schabern (na szaber)!"

      Einige Quellen besagen, dass die Kriegshandlungen Kamień Pomorski zu 70% zerstört haben. Tatsache ist, dass das Rathaus ausgebrannt war, der Bahnhof zerstört war sowie die Molkerei und am meisten sichtbar war das Bombeneinschlagsloch in der örtlichen Brauerei unten am Kai. Kamień Pomorski war wie ausgestorben. Die leerstehenden Wohnungen waren noch vollständig eingerichtet, wie wenn sie auf neue Bewohner warten würden. In leeren Sraßen standen die Türen der verlassenen Häuser offen. Es machte großen Spaß, die Straßen entlang zu gehen und Fensterscheiben mit Steinschleudern einzuschlagen. Wir betraten die Wohnungen und zerrissen wunderschön gebundene, mit deutscher Gotik bedruckte Bücher. „To szwabskie - das ist deutsch!" Diese Worte waren die einzige Rechtfertigung unserer jugendlichen Gedankenlosigkeit. Wir gingen in die Keller, in denen reihenweise Eingemachtes in den Regalen stand. Mit Stöcken, die unabdingbare Gesellschafter unserer Expeditionen waren, schlugen wir enthusiastisch in Gläser voll mit Gutem aus Sommertagen.

      Wenn wir etwas fanden, was uns gefiel, nahmen wir es mit, wie wenn es uns gehörte. Nicht selten trafen wir auf Erwachsene. Sie verjagten uns, nahmen aber selbst auch was sie irgendwie gebrauchen könnten. Die Szabersleut wüteten in den verlassenen Wohnungen und Häusern. Sie trugen alles heraus, womit man nur handeln konnte. Daher stammt das Wort „Szaberplac", also ein Platz, auf dem geplünderte Güter verkauft wurden. Auch die russische Armee trug zur Verwüstung dieser Gebiete bei. Sie eigneten sich alles an: Eisenbahngleise, eiserne Brücken, Maschinen, doch am liebsten nahmen sie ganze Fabriken auseinander, die sie bei sich wieder aufbauten. Doch zurück zu den ehemals deutschen Mietshäusern in Kamień Pomorski. Scheibenlose Fenster und Dächer, die nicht selten ihrer guten Dachziegel oder Bleche beraubt waren, konnten die Gebäude nicht mehr schützen vor Wind und Wetter. Sie verkamen zu Ruinen, bis schließlich die kommunistischen Herrscher die Überreste dieser Altbauten dem Erdboden gleichmachten und an gleicher Stelle sozialistische Wohnblöcke erbauten, wie sie bis heute stehen.

      Es war Anfang Dezember 1945, Schnee war gefallen. Eines Abends durften wir unsere Wohnung nicht betreten. Unsere Nachbarin nahm uns zu sich und sagte, dass wir bei ihr schlafen würden, weil Mama krank sei. „Aber macht Euch keine Sorgen. Morgen gibts eine Überraschung", fügte sie geheimnisvoll hinzu. In der Früh des 5.Dezember kamen wir ins elterliche Schlafzimmer. Mama lag im Bett. Sie winkte uns zu, uns vorsichtig ihrem Bett zu nähern. „Ihr habt ein kleines Schwesterchen", flüsterte sie uns zu. „Wollt ihr sie sehen", schaute sie uns fragend an. Ich nickte. Mama beugte sich über das kleine Bettchen neben dem elterlichen. Zuerst beugte sich Rysia hochgespannt drüber, richtete sich aber sofort wieder auf und auf ihrem Gesicht erschien eine Grimasse: „Ganz schön hässlich und klein", sagte sie und ging zu ihren schönen und großen Puppen. Nach einem Augenblick erblickte auch ich das kleine Geschöpf. So winzig und so wehrlos! Und was für große Äuglein sie hat. Ich lächelte Mama zu. „Mami, sie ist wie ein kleiner Frosch (Żaba)", flüsterte ich. Żabcia, Żaba, Żabulek. Damals nannte niemand unser kleines Schwesterchen anders. Unser Mädchen sollte den Namen Joanna erhalten. In der Behörde schrieb der Sachbearbeiter Johanna auf und der nächste korrigierte den Fehler auf Hanna. Und so ists geblieben.

      Schnell waren die ersten Nachkriegs-Weihnachtsfeiertage vergangen und das Neue Jahr 1946 wurde mit einem Knall aus von uns inszenierten Explosionen begrüßt. Überall lag Munition! Damals wühlten alle Jungs in Munition. Einige gingen an die Bucht und warfen die Ladungen ins Wasser, um die Fische zu ertauben. Schießpulver gab es im


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