Nana. Emile Zola

Nana - Emile Zola


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      »Warum«, fragte sie, »hast du mir denn nicht gesagt, daß du Nana kennst?«

      »Ich? Nana? – Ich habe sie im Leben nicht gesehen!«

      »Ganz gewiß? Man hat mir hoch und heilig versichert, du wüßtest in ihrem Schlafzimmer vortrefflich Bescheid.«

      Aber in diesem Augenblick stellte sich Mignon vor sie und bedeutete ihr, indem er den Finger auf die Lippen legte, zu schweigen. Auf einen fragenden Blick Lucys zeigte er auf einen jungen, eben vorübergehenden Mann und flüsterte: »Nanas Liebster!«

      Aller Blicke richteten sich auf ihn. Er war ein hübscher Bursche. Fauchery kannte ihn: Daguenet war es, ein Junggeselle, der mit Weibern dreihunderttausend Franken durchgebracht hatte und jetzt an der Börse spielte, um seinen alten Flammen hier und da einen Blumenstrauß oder ein Diner zu verehren. Lucy fand, daß er schöne Augen habe.

      »Ah, da kommt Blanche!« rief sie aus. »Die hat mir gesagt, daß du Nana so genau kennst.«

      Blanche de Sivry, eine große, fette Blondine, deren hübsches Gesicht dick mit Schminke belegt war, kam in Gesellschaft eines schmächtigen, mit großer Sorgfalt gekleideten Mannes von sehr distinguiertem Aussehen.

      »Der Graf Xavier von Vandeuvres«, flüsterte Fauchery seinem Vetter ins Ohr.

      Der Graf tauschte einen Händedruck mit dem Journalisten, während sich zwischen Blanche und Lucy eine lebhafte Auseinandersetzung entspann. Sie nahmen den ganzen Gang ein mit ihren bauschigen, dicht mit Volants besetzten Kleidern; die eine ging in Blau, die andere in Rosa; und der Name Nana kam so oft über ihre Lippen, daß jedermann ihnen zuhörte. Der Graf von Vandeuvres führte Blanche beiseite. Aber jetzt erklang der Ruf »Nana« an allen vier Ecken des Vestibüls. Fing man denn noch immer nicht an? Die Männer zogen ihre Uhr aus der Tasche; Verspätete sprangen aus ihren Wagen heraus, noch ehe die Kutscher angehalten hatten; Gruppen verließen den Gehsteig, auf dem Spaziergänger langsam durch die leergebliebene Gaslichtfläche schritten, den Hals weit vorreckend, um einen Blick in das Theater zu werfen. Ein Gassenjunge, ein Liedchen pfeifend, pflanzte sich vor eins der Plakate und schrie, indem er weiterschlurfte, mit heiserer Schnapsstimme: »Nana! Ohe, Nana!«

      Über dem tosenden Lärm erschallte jetzt die gellende Zwischenaktsklingel. Ein Stimmengewirr pflanzte sich fort bis auf den Boulevard. »Es hat geklingelt! Es hat geklingelt!« Und jetzt folgte ein Drängen und Schieben und Stoßen, ein jeder wollte zuerst hinein. Mignon, der sichtlich unruhig geworden war, bemächtigte sich endlich Steiners, der sich Roses Kostüm nicht angeschaut hatte. Beim ersten Erklingen der Glocke hatte sich Faloise, Fauchery mit sich schleppend, den Weg durch die Menge gebahnt, um ja nicht den Beginn zu verpassen. Diese ungestüme Hast des Publikums irritierte Lucy Stewart.

      »Die Leute tun gerade, als ob man hier immer nur besondere Stücke zu sehen bekäme!« meinte sie, während sie die Treppe hinaufstieg.

      Im Saal schauten sich Fauchery und Faloise von neuem um. Die beiden Vettern suchten Gesichter von Bekannten. Mignon und Steiner standen beisammen in einer Parterreloge, mit den Fäusten auf den Samt der Brüstung gestützt. Blanche de Sivry schien für sich allein die Proszeniumsloge im Parterre belegt zu haben. Aber Faloise betrachtete vornehmlich Daguenet, der in der zweiten Reihe vor ihm einen Parkettsitz innehatte. Neben ihm saß ein blutjunger Mensch von höchstens siebzehn Jahren, der aussah, als sei er eben dem Gymnasium entlaufen, und riß seine schönen Cherubaugen weit auf. Fauchery lächelte, während er ihn betrachtete.

      »Wer ist denn die Dame in der Balkonloge«, fragte plötzlich Faloise, »neben der ein junges Mädchen im blauen Kleid Platz genommen hat?«

      Er zeigte auf eine korpulente, prall in ihr Korsett gezwängte Dame; das Haar war verfärbt, der Teint vergilbt, und das runde, verschminkte Gesicht quoll auf unter einem wahren Regen von kleinen Löckchen.

      »Das ist Gaga«, gab Fauchery zur Antwort.

      Und als er bemerkte, daß dieser Name seinen Vetter aufhorchen ließ, fügte er hinzu:

      »Du kennst Gaga nicht? Während der ersten Regierungsjahre Louis Philippes hat sie die Herzen aller Männer berauscht. Jetzt schleppt sie ihre Tochter überall mit sich umher.«

      Faloise hatte keinen Blick für das junge Mädchen. Der Anblick Gagas regte ihn auf; seine Blicke verließen sie nicht mehr. Er fand, daß sie noch vortrefflich aussehe, wagte es aber nicht zu sagen.

      Fauchery zeigte seinem wißbegierigen Vetter die Logen der Journalisten, nannte ihm die dramatischen Kritiker, einen dürren Herrn mit vertrocknetem Gesicht und schmalen, hämisch aufgeworfenen Lippen, einen anderen, dick und behäbig, mit einem wahren Kleinkindergesicht, der sich auf die Schulter seiner Nachbarin stützte, einer harmlosen Unschuld, die er mit väterlichem, liebevollem Blick hütete.

      Aber er unterbrach seine Rede, als er Faloise mit Leuten Grüße wechseln sah, die eine Loge ihnen gegenüber innehatten. Er schien erstaunt zu sein.

      »Wie«, rief er überrascht, »du kennst den Grafen Muffat de Beuville?«

      »Oh, schon seit langer Zeit!« versetzte Hector. »Die Muffat haben ein Besitztum neben dem unsrigen. Ich verkehre oft bei ihnen … Der Graf sitzt dort mit seiner Frau und seinem Schwiegervater, dem Marquis de Chouard.«

      Aus Eitelkeit, glückselig ob des Erstaunens, welches sein Vetter bezeigte, erging er sich nun in Einzelheiten: Der Marquis war Staatsrat, der Graf dagegen war soeben zum Kammerherrn der Kaiserin ernannt worden. Fauchery, der nach seinem Opernglase gegriffen hatte, betrachtete die Gräfin, eine volle Brünette mit weißer Haut und schönen schwarzen Augen.

      »Du wirst so gut sein, mich während eines Zwischenaktes vorzustellen?« wandte er sich schließlich zu seinem Vetter. »Ich bin mit dem Grafen schon zusammengewesen, aber ich möchte sehr gern zu ihren dienstäglichen Empfangsabenden geladen werden.«

      »Pst! Pst!« schallte es energisch von den höheren Galerien herunter. Die Ouvertüre hatte begonnen; noch immer kamen neue Besucher. Verspätete zwangen ganze Reihen von Zuschauern, die längst schon gesessen hatten, zum Aufstehen; die Logentüren knarrten und fielen ins Schloß zurück; grobe Stimmen stritten in den Gängen, und die Menge schwatzte und schwatzte wie ein Spatzenschwarm, wenn der Tag zur Neige geht. Es war ein Wirrwarr, ein Durcheinander von wogenden Köpfen und Armen; die einen setzten sich oder suchten ihre Sitze, die anderen wollten durchaus stehenbleiben, um einen letzten Blick über den Raum zu werfen. Der Ruf: »Niedersetzen! Niedersetzen!« ertönte mit Heftigkeit aus den finsteren Tiefen des hinteren Parterres. Eine lebhafte Bewegung ging durch die Menge: endlich sollte man die berühmte Nana zu sehen bekommen, mit der sich Paris schon acht Tage lang beschäftigte.

      Allmählich stockte die Unterhaltung; nur ein paar schläfrige, fette Stimmen wurden noch ein paarmal laut; und inmitten dieses halblauten Geflüsters, dieses abebbenden Summens sprang aus dem Orchester ein flotter Walzer auf, dessen in die Beine fahrender einschmeichelnder Rhythmus reizte. Das heiter gestimmte Publikum lachte schon … Jetzt klatschte die auf den ersten Stühlen des Parterres sitzende Claque wütend in die Hände. Der Vorhang ging in die Höhe.

      »Ei, sieh doch«, rief Faloise, der in einem fort plauderte, »dort bei Lucy steht ein Herr.«

      Er betrachtete die Balkonloge rechts, deren vordere Sitze Caroline und Lucy innehatten. Im Hintergrund sah man das würdige Gesicht der Mutter Carolines und das Profil eines großen, blondhaarigen Herrn in einer Haltung, die jeden, auch den kleinsten Tadel ausschloß.

      »Sieh doch«, wiederholte Faloise mit Hartnäckigkeit, »es ist ein Herr drinnen.«

      Fauchery ließ sich bestimmen, sein Opernglas nach der bezeichneten Balkonloge hinaufzurichten. Aber er wendete sich sogleich wieder ab.

      »Ach, das ist Labordette«, meinte er mit sorglos-unbefangener Miene, als ob die Gegenwart dieses Herrn für jedermann natürlich sein müßte und von keinerlei Belang sei.

      Hinter ihnen wurde »Ruhe! Ruhe!« geschrien. Jetzt erst trat Stille im Saal ein, vom Orchester bis zum Amphitheater reckten sich die Kopfreihen erwartungsvoll aufmerksamer Zuschauer empor.

      Der erste Akt der »Blonden


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