Im Auftrag der Dunkelheit. Narcia Kensing

Im Auftrag der Dunkelheit - Narcia Kensing


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das Haus zu verlassen und den ganzen Weg bis zur Wasserpumpe zu gehen. Sie entwirrte notdürftig ihre Haare mit den Fingern und rieb sich das Gesicht. Ihr Blick fiel auf den Herd und die alte Teekanne, die darauf stand. Sie hätte jetzt ein warmes Getränk vertragen können, doch dazu hätte sie Feuer machen müssen. Die Faulheit siegte schließlich. Jill nahm den Teekessel vom Herd. Es war noch Wasser darin. Sie goss sich etwas davon in eine Tasse und trank. Das Wasser schmeckte widerlich abgestanden. Dann setzte sie sich auf den Küchenstuhl, stemmte die Ellenbogen auf die Tischplatte und stützte ihren Kopf mit den Händen. Bald würde ihre Schwester aufstehen und frisches Wasser holen, so lange würde sie noch warten müssen. Wahrscheinlich müsste Jill sich dann wieder das Genörgel anhören, weshalb sie denn bloß so faul sei. Nebenan schnarchte der Vater noch immer.

      Jill wusste nicht genau, ob sie eingenickt war, aber als sie hochschreckte, ging draußen bereits die Sonne auf. Sie stieß mit dem Arm versehentlich ihre halb geleerte Tasse vom Tisch, die daraufhin über den Dielenboden polterte und gegen den Metallfuß des Herdes stieß. Das Geräusch durchschnitt die Stille wie ein Peitschenhieb. Nur Augenblicke später vernahm Jill das verärgerte Knurren ihres Vaters aus der angrenzenden Stube. Sie hörte das Knarren des Sofas, dann schlurfende Schritte.

      »Jill!« Seine Stimme war tief und laut. Er betrat die Küche, sein Hemd war zerknittert, die Schuhe hatte er scheinbar auch nicht ausgezogen, bevor er eingeschlafen war. Schon aus der Distanz roch Jill den Schnaps in seinem Atem.

      »Jill, was soll das? Hast du nicht alle Tassen im Schrank?«

      Jill blieb vollkommen ungerührt. »Nein, im Schrank ist die Tasse tatsächlich nicht mehr. Sie liegt unter dem Herd.«

      »Wenn du wieder frech wirst, dann kannst du was erleben.« Ihr Vater machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu und hob die Hand, als wolle er sie schlagen. Dann schwankte er jedoch zur Seite und stützte sich gegen den Türrahmen. Jill gab sich unbeeindruckt. Sie kannte die Ausbrüche ihres Vaters nur allzu gut, vor allem, wenn er getrunken hatte.

      »Du nichtsnutziges Ding, wie spät ist es?« Seine Worte und Reaktionen waren die eines Säufers, unlogisch und unberechenbar. Jills Blick glitt hinüber zu der Pendeluhr, die über der Kommode in der Küche hing. Sie hatte nie gelernt, eine Uhr zu lesen, doch sie wusste, dass die Position der Zeiger bedeutete, dass es noch furchtbar früh war.

      »Entweder machst du dich bald nützlich, oder du fliegst aus meinem Haus!«

      »Ohne mich könntest du deinen Suff gar nicht finanzieren, Brad.« Jill verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich im Stuhl zurück. Wenn sie sich mit ihrem Vater stritt, sprach sie ihn grundsätzlich mit seinem Vornamen an. Die Bezeichnung Vater hatte er auch eigentlich gar nicht verdient.

      »Ich biete dir ein Dach über dem Kopf.«

      Jill machte eine abwertende Handbewegung. »Ich streite nicht mit dir, wenn du betrunken bist.« Sie schob geräuschvoll den Stuhl zurück und stand auf. In diesem Moment hörte sie Schritte auf der Treppe. Nur wenig später erschien ihre Schwester Dana hinter ihrem Vater in der Küchentür.

      »Warum müsst ihr euch schon am frühen Morgen anschreien?« Ihre Stimme klang flehend, beinahe weinerlich. Danas Füße waren nackt, die dunkelbraunen Locken unter einer Schlafhaube verborgen.

      »Weil deine dumme Schwester sich die halbe Nacht herumtreibt anstatt für ihre Familie zu sorgen«, lallte Brad. »Und kalt ist es hier auch. Kannst du nicht wenigstens das Feuer im Ofen anfachen?«

      Jill sog geräuschvoll die Luft ein. »Wessen Aufgabe ist es denn in anderen Familien, das Geld heran zu schaffen? Die der Kinder? Denk mal genau nach, Brad

      Seine Augen verengten sich. »Ihr seid beide alt genug, um einen Mann zu finden, der sich um unser Haus und den Hof kümmert. Ein alter Mann sollte nicht schuften müssen, bis er in den Sarg steigt.«

      Jill verbrannte ihren Vater mit einem bitterbösen Blick. »Alt. Brad, du bist noch nicht alt. Du könntest durchaus arbeiten, wenn du doch nur nicht so viel trinken würdest.« Jill wandte sich um und griff nach der Türklinke der Wohnungstür.

      »Möchtest du nicht frühstücken?«, fragte Dana. Es war bewundernswert, wie sehr sich ihre ältere Schwester darum bemühte, die Familie seit dem Tod ihrer Mutter zusammen zu halten. Für Jill gab es da nichts mehr zu kitten. Mehr als eine Zweckgemeinschaft waren sie nicht.

      »Ich besorge mir selbst etwas zu essen.« Jill öffnete die Tür zum Hof. Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen. Sie hörte, wie jemand hinter ihr in der Blechdose kramte, die immer auf der Kommode in der Küche stand. Dann prallte etwas kleines Hartes gegen ihren Hinterkopf. Sie fuhr herum und bückte sich danach. Es war ein Schilling.

      »Geh und bring Milch mit, wenn du wiederkommst. Und wehe du gibst das Geld für etwas anderes aus«, knurrte ihr Vater.

      Jill hob das Geldstück auf und steckte es in ihre ausgebeulte Hosentasche. Dann zerrte sie die Milchkanne aus dem kleinen Schuppen hinter dem Haus hervor, öffnete das quietschende Tor zum Grundstück und trat auf die Straße hinaus.

      Hier am Stadtrand bewegten sich kaum Menschen auf den Straßen, die meisten waren mit der Bewirtschaftung ihrer Felder und der Versorgung des Viehs beschäftigt. Das Grundstück von Jills Familie verfiel seit Jahren, und Vieh besaßen sie schon lange keines mehr. Die Nachbarn mieden die Familie Tevell, und Jill konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Sie mochte diese Gegend nicht, sondern bevorzugte das geschäftige Treiben in der Innenstadt. Dort konnte sie weitgehend anonym untertauchen, dort gab es kein Gerede. Und dort konnte sie am ehesten dem nachgehen, was sie am besten konnte: stehlen. Sie war nicht stolz darauf, aber sie hatte durchaus Talent. Außerdem liebte sie die hohen Häuser, die Geschäfte, die bunten Plakate und die vornehm gekleideten Menschen, die sich in der Stadt tummelten. Manchmal bekam sie sogar eines der neuartigen Automobile zu sehen.

      Jill betrat den breiten Bürgersteig der großen Hauptstraße, die Milchkanne baumelte an ihrem Handgelenk. Der Morgen war kühl und der Wind pfiff um die Häuserecken. Es war ein Tag im Spätsommer, trotzdem schaffte es die Sonne nicht, die Luft unter der dicken grauen Dunstschicht aufzuwärmen. Vielleicht würde es ein schöner Tag werden, wenn sich der Nebel gelichtet hatte.

      Die ersten Kaufmänner begannen damit, die Schilder und Warenständer vor ihre Geschäfte zu zerren. Der Blumenhändler, der gerade damit beschäftigt war, die Eimer mit den Margeriten neben dem Eingang seines Ladens aufzustellen, warf Jill einen grimmigen Blick zu. Jill überlegte, ob er einen Grund hatte, sie so missmutig anzusehen. Hatte sie ihn kürzlich bestohlen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht war er einfach schlecht gelaunt, oder ihm missfiel Jills sonderbares Auftreten. In ihren Herrenhosen und dem groben Leinenhemd wirkte sie nicht sehr damenhaft, aber das war Jill egal.

      Ein helles bing bing riss Jill aus ihren Gedanken. Sie wandte den Kopf. Eine Straßenbahn ratterte um die Ecke. Hier in der Innenstadt gab es schon elektrische Bahnen, weiter draußen zogen Pferde die Waggons. Jill sah dem leuchtend grünen Gefährt sehnsuchtsvoll hinterher. Gerne wäre sie einmal mit der Bahn gefahren, aber sie wollte das Geld für ein Ticket nicht achtlos vergeuden. Sicherlich hätte ihr eine solche Fahrt viele Wege erleichtert, doch sie war jung und gut zu Fuß. Kaum jemand konnte so schnell laufen wie sie, nicht einmal die halbwüchsigen Jungen aus ihrer Nachbarschaft.

      Nachdem Jill ihren Einkauf beendet hatte, wäre sie gerne noch ein wenig länger in der Stadt geblieben und durch den Park geschlendert, aber sie wusste, dass der Vater zuhause ungeduldig auf seine Milch wartete, deshalb trat sie den Rückweg unverzüglich an. Der Griff der schweren Kanne schnitt ihr in die Handflächen.

      Gedankenverloren schlenderte sie die lange Hauptstraße zurück nach Garnick, dem Viertel der Bauern und einfachen Bürger, als sie plötzlich jemand von hinten gegen die Schulter stieß. Jill stolperte und hatte alle Mühe, keine Milch zu verschütten.

      »Pass doch auf!«, fuhr Jill den Rüpel an, noch bevor sie sein Gesicht gesehen hatte. Ein hagerer junger Mann stand hinter ihr, die Fäuste in die Luft gereckt, im Gesicht ein boshaftes Grinsen. Seine Haare waren kupferrot, die Ohren standen ihm vom Kopf ab. Jill hätte dieses Gesicht überall wiedererkannt.

      »Was


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