Im Auftrag der Dunkelheit. Narcia Kensing

Im Auftrag der Dunkelheit - Narcia Kensing


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      »Du schuldest mir noch etwas«, sagte er.

      »Tatsächlich? Was soll ich dir denn schulden? Einen Schlag auf die Nase?«

      Ricky kam einen Schritt auf sie zu. Die ersten Passanten reckten die Köpfe nach den beiden, gingen jedoch ihres Weges.

      »Geld. Für Zigaretten.« Ricky verschränkte die Arme vor der Brust und klopfte mit der rechten Fußspitze ungeduldig auf den Boden.

      »Zigaretten?« Jills Stimme kippte. Immer, wenn sie sich aufregte, klang ihre Stimme schrill. »Die Zigaretten waren ein Geschenk. Von Geld war nie die Rede.«

      »Seit wann schenke ich dir etwas? Da du mir nicht deine Brüste dafür zeigen wolltest, muss ich eben Geld verlangen.« Er grinste und offenbarte seine schiefen Hasenzähne.

      »Du spinnst wohl. Damit du irgendetwas von mir zu sehen bekommst, müsste ich schon sehr betrunken sein. Und jetzt verzieh dich.«

      Jill wandte sich um und wollte die Milchkanne wieder aufnehmen, als Ricky diese mit einem Tritt umstieß. Die Milch versickerte im Rinnstein.

      »Jetzt reicht’s.« Jill krempelte die Ärmel hoch und holte zum Schlag aus, aber jemand hielt von hinten ihr Handgelenk fest. Ricky rannte davon. Jill drehte sich um. Ein Mann mit Hut und Frack stand hinter ihr. Sein Schnauzbart zuckte verärgert.

      »Mach, dass du hier verschwindest, oder ich hole die Polizei«, brummte er. »Eine Prügelei wollen wir hier nicht haben. Das gehört sich außerdem nicht für eine Dame!«

      Jill riss ihren Arm los, nahm wortlos die leere Milchkanne auf und setzte ihren Weg fort. Unbändige Wut stieg in ihr auf. Sie achtete nicht auf die Menschen um sie herum, und beinahe wäre sie auf einen kleinen Hund getreten. Seine Besitzerin schimpfte lauthals, aber Jill achtete nicht darauf.

      Sie wusste, dass es zuhause ein Donnerwetter geben würde. Sie hatte keine Angst vor Brad, aber es tat ihr leid um ihre Schwester, die nach einem heftigen Streit immer ganz aufgewühlt war und oft stundenlang in ihrem Zimmer saß und weinte.

      Als Jill das Bauernviertel Garnick erreichte, war der Vormittag bereits fortgeschritten. Es roch nach Unrat, weil einige der Bäuerinnen die Nachttöpfe im Rinnstein geleert hatten. In der Innenstadt roch es niemals schlecht, dort gab es wenigstens richtige Toiletten. Jill rümpfte die Nase und ging eiligen Schrittes weiter.

      Als sie das quietschende Tor zum Hof öffnete, stand Brad bereits im Vorgarten.

      »Da bist du ja endlich. Hast du die Milch?«, stieß er hervor und riss Jill die Kanne aus der Hand. »Da ist nichts drin. Was soll das?« Er schlug mit der Kanne nach Jill, aber sie duckte sich rechtzeitig.

      »Jemand hat die Milch verschüttet, es war nicht meine Schuld.«

      Eine Weile lang sagte er nichts, als müsse er angestrengt über ihre Worte nachdenken. Mittlerweile trug er ein frisches Hemd, vermutlich hatte Dana ihm beim Ankleiden geholfen.

      »Das glaube ich dir nicht. Du hast das Geld wieder ausgegeben. Für Drogen nehme ich an.« Seine Stimme wurde lauter.

      »Ich nehme grundsätzlich keine Drogen.«

      »Egal, wofür du es ausgegeben hast, du sorgst dafür, dass bis heute Nachmittag neues Geld da ist, sonst kannst du heute Abend nicht mehr sitzen!« Er reckte eine Faust in die Luft. Jill ließ sich nicht provozieren, deshalb nahm Brad die Hand wieder herunter. In ruhigerem Tonfall sagte er: »Dana geht gleich hinunter zum Marktplatz. Geld verdienen. Mit ehrlicher Arbeit.« Er betonte seine letzten Worte besonders abfällig. »Du wirst ihr dabei helfen.«

      Jill schritt an ihrem Vater vorbei hinter das Haus. Sie hatte mit wesentlich mehr Ärger gerechnet, deshalb wollte sie ihn nicht noch weiter provozieren.

      Dana stand mit aufgekrempelten Ärmeln an der Pumpe und gab sich alle Mühe, ihre Waschwanne mit Wasser zu füllen. Sie trug ein einfaches blaues Tuchkleid mit Schürze, auf ihrem Kopf saß ein weißes Kopftuch. Jill lächelte amüsiert. Ihre Schwester bemühte sich, eine redliche Dame zu sein. Manchmal tat sie ihr leid. Seit ihre Mutter gestorben war, fielen ihr sämtliche Aufgaben im Haushalt zu. Wenn Jill nicht diejenige gewesen wäre, die das meiste Geld nach Hause brächte, hätte sie vermutlich ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch so verteilten sich die Aufgaben wohl gerecht.

      »Hast du keine Kraft in den Armen, Schwesterchen?«, zog Jill sie auf.

      Dana ließ den Hebel der Pumpe los. »Wenn du alles besser kannst, kümmere dich doch selbst um die Hausarbeit.« In ihrer Stimme lag Bitterkeit.

      »Vater hat gesagt, ich soll mit dir zum Markt gehen.«

      »Ich weiß, er war kaum zu überhören.«

      Jill glaubte, Missmut in ihrer Stimme zu hören.

      »Aber vorher gehst du dich waschen und kämmst dir die Haare«, sagte Dana. »Du vertreibst mir noch die Kunden.«

      ***

      Zwei Stunden später hatte Jill sich die Haare gekämmt und ihrer Schwester zuliebe ein frisches Kleid angezogen. Sie mochte Kleider nicht besonders, weil sie sie beim Klettern und rennen behinderten. Jill betrachtete sich im Spiegel an der Innenseite der Küchentür und musste unwillkürlich lachen.

      »Was ist so lustig?«, fragte Dana, die gerade damit beschäftigt war, die Kerzen und Honiggläser in den Handkarren zu laden.

      »Ich sehe aus wie ein Mütterchen.«

      »Du siehst endlich einmal nach dem aus, was du bist: eine hübsche junge Frau von zwanzig Jahren.«

      Jill strich sich über die glatt gekämmten schwarzen Haare. Dana hatte Recht, sie sah aus wie eine anständige Frau im besten Heiratsalter. Jill verzog das Gesicht und schnitt sich selbst Grimassen. Der Gedanke war derart absurd, dass sie sich über sich selbst wunderte. Niemals würde sie heiraten.

      »Willst du jetzt albern sein oder mir mit den Gläsern helfen?« Dana wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.

      Jill half ihr, die restlichen Gläser im Wagen zu verstauen. Die beiden Bienenstöcke waren der ganze Reichtum der Familie Tevell. Sie versorgten sie mit Honig, und Dana verkaufte ihre selbst gezogenen Kerzen jede Woche auf dem kleinen Marktplatz von Garnick. Sie verdiente weniger Geld als Jill mit der Stehlerei. Sie wusste, dass es ihre Schwester störte.

      Sie verließen den Hof, als die Sonne hoch am Himmel stand. Es war doch noch ein schöner Tag geworden, aber nicht besonders warm. Ein angenehm kühler Wind streifte durch die Gassen.

      Der Marktplatz von Garnick lag nicht mehr als zwei Meilen entfernt, sodass sie den schweren Karren nicht allzu weit ziehen mussten. Trotzdem war der Weg beschwerlich, denn weder die Straßen noch der Marktplatz von Garnick waren asphaltiert oder gepflastert. Große und kleine Steine, Löcher und Erhebungen ließen die Gläser unter der Plane beängstigend klirren. Als sie den Marktplatz erreicht hatten, stand Dana der Schweiß auf der Stirn. Sie war nicht besonders sportlich. Jill fragte sich, wie sie es bloß schaffte, diesen beschwerlichen Weg Woche für Woche allein zurückzulegen.

      Dana hatte einen kleinen Klapptisch im Karren verstaut. Sogleich machte sie sich daran, ihre Waren darauf aufzubauen. Ein kleiner befleckter Sonnenschirm mit roten Streifen schützte die empfindlichen Bienenwachskerzen vor der Sonne. Sie waren nicht allein, auch andere Bauern und Händler waren gekommen, um ihre Waren feilzubieten. Eine Mannigfaltigkeit verschiedener Gerüche hüllte Jill ein.

      »Lederriemen und Seile! Heute besonders günstig!«

      »Haare schneiden für Damen und Herren! Kommt heran und lasst euch die Haare schneiden!«

      Mit jeder Minute stieg die Anzahl der Menschen, die sich um Jill herum drängten, und auch immer mehr Händler bauten ihre Stände um sie herum auf. Blumen, Käse, Stoffe, Kräuter, Früchte, Hühner und allerhand anderen Krempel gab es hier zu kaufen. Jills Blick streifte neugierig die Waren der anderen Verkäufer.

      »Denk nicht einmal dran«, sagte Dana, als sie hinter ihrem Tisch Stellung bezog.

      »Wie


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