Das Buch der Gaben. Micha Rau
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Micha Rau
Das Buch der Gaben
Tommy Garcia
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Inhaltsverzeichnis
Tommy
Der Sommer lag endlos vor mir. Sechseinhalb Wochen, genau fünfundvierzig Tage, dehnten sich vor mir aus. An dem Tag, an dem ich Tommy kennen lernte, hatte ich ein ziemlich schlechtes Zeugnis bekommen und mich an meiner Mutter vorbei in mein Zimmer geschlichen.
Ich dachte, dass die Sommerferien unglaublich langweilig werden würden. Ich war zwölf Jahre alt und hatte, so sagte meine Mutter immer, nichts anderes als den blöden Computer im Kopf. Ich wäre kein normaler Junge und sie wüsste nicht, von wem ich das habe und so weiter. Na, da könne sie ganz beruhigt sein, meinte ich bei solchen Reden zu ihr, das hab ich von keinem, denn ihr habt ja damals noch mit Feder und Tinte geschrieben, und beim Surfen lerne ich sowieso viel mehr als bei Herrn Schulz. Und überhaupt, du weißt ja noch nicht mal, wie man reinkommt! Aber dann ging das Theater erst richtig los, und ich musste jedes Mal den Rückzug antreten, sonst hätte Mutter mir womöglich noch das Surfen verboten.
Ich heiße Joe Seefeld. Das heißt, eigentlich heiße ich Josef. Das verdanke ich meiner Oma, denn die war dafür zuständig, meinen Namen auf dem Standesamt anzumelden. Mein lieber Herr Vater war mal wieder auf einer seiner langen Dienstreisen. Handys gab es damals noch nicht (mein Gott!), und daher packte Mutter meine Oma ein und nahm sie mit ins Krankenhaus. Als ich dann auf der Welt war, war von meinem Vater immer noch weit und breit nichts zu sehen. Und so kam es, dass sich ein kleiner Streit um den Namen des Sohnes oder Enkels entwickelte, der sich dann darin entschied, dass meine Oma den Namen Josef anmeldete (schließlich konnte Mutter nicht aus dem Krankenhaus laufen). Oma meinte ganz einfach, Josef erinnere sie und damit den Rest der Familie so schön an ihren verblichenen Mann - also meinen schon nicht mehr vorhandenen Opa - und sei zudem ein heiliger Name. Also sagte sie dem Standesbeamten, Josef soll er heißen. Das war’s dann. Als ich das erfuhr, fing ich an zu schreien und hörte nicht mehr auf, obwohl ich da erst drei Tage alt war! Das erzählt mir meine Mutter heute noch lachend.
Ich war also mit dem Namen Josef gestraft und musste eine ganze Reihe von Jahren unter dem Gespött so mancher Kameraden leiden, bis wir das erste Mal Cowboy und Indianer spielten und ich meine Chance ergriff und zu Joe Cartwright wurde. Den Namen Joe habe ich nie wieder hergegeben.
Aber ich bin etwas abgeschweift. Kommen wir zurück zu dem Tag, der der Beginn einer endlosen Reihe langweiliger Tage zu werden versprach und der dann doch eine Wende einleitete, die mich hineinriss in einen Strudel wahnsinniger Abenteuer, von denen ich bis heute noch nicht richtig glauben kann, dass ich sie erlebt und vor allem überlebt habe.
Ich lehnte mit den Armen verschränkt auf dem Fensterbrett und starrte aus meinem Fenster im dritten Stock unseres Mietshauses nach unten. Neben mir lag mein Hund Lazy. Die beiden Schlappohren ruhten auf seinem Hundekissen, das eigentlich mal mir gehört hatte. Das ständige Sabbern hatte mich dann aber doch dazu bewogen, nachzugeben und Lazy mein Schmusekissen abzutreten. Ich hatte diesen Hund vor vier Jahren geschenkt bekommen, „ ... damit ich auch mal rausgehe ... “, wie Mutter mit fröhlichem Gesicht damals sagte.
Es hatte sich nur schnell herausgestellt, dass der süße Kerl (Lazy ist ein Basset) wohl der faulste Hund im ganzen Universum war, denn schon als Welpe blieb er nach dem ersten Pullern neben unserer Eingangstür sitzen und schaute mir nach. Und das merkte ich erst, als ich schon hundert Meter weitergelaufen war und mein neues Hundchen vermisste. Denn Laufen hasste Lazy genauso wie Kälte. Na, warm war es diesen Sommer wenigstens.
Soweit die Vorgeschichte zu meinem Hund.
Also, wir beide gammelten am Fenster und schauten nach unten. Unten, das hieß: direkt auf die Welfenallee. Wir wohnen, wie mein Vater zu sagen pflegt, in einer gutbürgerlichen Gegend. Ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung, was das ist. Wenn gutbürgerlich stinklangweilig bedeutet, dann wohnen wir in einer gutbürgerlichen Gegend.
Da wir also nicht mitten in der Stadt wohnen, ist das Geschehen draußen auf der Straße nicht besonders aufregend. Aber was sollte ich machen? Mein bis dahin 1a-Freund Andi war mit seinen Eltern letzten Monat nach Bayern gezogen, und woher sollte man auf die Schnelle einen neuen 1a-Freund nehmen?
1a nannten wir den besten Freund, das war eben der, dem man alles anvertraute. So ein 1a-Freund ist ein Glücksfall, und wenn dieser nun nach Bayern zieht (ausgerechnet nach Bayern, ein Land, von dem ich mir wahrlich nicht vorstellen kann, dass es da auch nur einen einzigen 1a-tauglichen Freund geben könnte!), dann sitzt man dumm da.
Okay, 1b-Freunde gibt es haufenweise, aber alle, die ich dann so in Gedanken aufzählte und nacheinander anrief, fuhren bald in den Urlaub oder waren schon gleich am ersten Ferientag mit ihren Eltern sonst wohin abgezischt. Deswegen saß ich an diesem Tag stinksauer auf Andi, auf alle 1b-Typen, auf mein Zeugnis, eben sauer auf die ganze Welt, an meinem Fenster und starrte nach draußen. Das einzige, was mich jetzt noch aufrecht hielt, war die Musik, die aus meinen Boxen rieselte. Da ich schon ein ganzes Weilchen aus dem Fenster sah, fing ich wie so oft an zu träumen, sah mich als Superstar auf einer Bühne, die Arme in die Luft streckend einen Megahit singend, und die Welt (vor allem die Mädchen!) lag mir zu Füßen.
Leider reichte das Kabel meines Kopfhörers nicht vom Radio bis zum Fenster. Da Mutter nicht unbedingt die Bässe bis in die Küche hören sollte, denn dann kämen sie und das Thema Zeugnis auf mich zu, konnte ich also meinen Lieblingssender nur viel zu leise hören. Und das machte mich dann noch saurer.
Genau in dieser Stimmung erwischte mich Tommy. Das heißt, eigentlich erst einmal ein Lastwagen, der um die Ecke bog und die Straße entlangschlich. Ich las „Balleck-Umzüge“ auf der Seitenwand, und plötzlich wusste ich, wohin dieser Wagen wollte. Schließlich stand schon seit längerer Zeit die Wohnung über uns leer. Jeden Samstag kam dieser schleimige Hausverwalter mit einer Horde von Interessenten und hinterließ, wie meine Mutter zu sagen pflegte, eine Spur der Verwüstung