Das Buch der Gaben. Micha Rau

Das Buch der Gaben - Micha Rau


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sondern die Dinge gemeinsam besprechen.“

      „Und was ist dann mit dem Fernseh- und Surfverbot, das Vati mir immer reinhaut?“

      Sie wollte noch etwas erwidern, und ich konnte deutlich sehen, wie sie sich in Gedanken etwas zurechtbog, was meinen Vater entlasten und was gleichzeitig ihrer Argumentation nicht widersprechen durfte, als ich wie von göttlicher Fügung Hilfe von unerwarteter Seite bekam. Es klingelte an der Wohnungstür.

      Meine Mutter holte tief Luft, aber an ihren Augen sah ich, dass sie mir doch nicht ernsthaft böse war. Sitzen geblieben war ich schließlich nicht, denn das hätte man meinen Eltern in einem extra Brief mitgeteilt. Allerdings, viel gefehlt hatte nicht. Und wie knapp es war, das konnte man schon an meinen Noten im Zeugnis ablesen. Tja, also fürs Sparbuch würde dieses Jahr garantiert nichts herausspringen. Es sei denn, ich würde Oma mal ohne meine Eltern besuchen. Da bräuchte ich nicht mal schwindeln, Oma war schon zufrieden, wenn ich jetzt in die Siebte ging, denn viel weiter hatte sie es selbst nicht geschafft. Sind doch gewaltige Unterschiede zwischen Eltern und Großeltern. Für den Augenblick jedoch war ich recht froh, dass ich die heikle Angelegenheit erst noch einmal verschieben konnte.

      „Das sind die Neuen!“, rief ich und drängelte mich an meiner Mutter vorbei.

      „Welche neuen?“, fragte sie verwundert.

      „Na, die von oben, die mit dem durchgedrehten Hund!“

      Ich wollte nicht noch länger mit Mutter diskutieren, denn wenn sie gemerkt hätte, wie lange ich eigentlich schon zu Hause gewesen sein musste, konnte die später folgende Diskussion doch noch recht unangenehm werden. Ich rannte förmlich zur Tür, um die höchst willkommenen Gäste begrüßen zu können.

      Als ich öffnete, hatte ich genau eine Sekunde, um den Jungen, der da vor mir stand, als den zu registrieren, der mir von der Straße aus zugewinkt hatte, und dann dachte ich noch: Wo ist der Hund? Doch schon im selben Augenblick bemerkte ich aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung. Ich hörte einen merkwürdig quiekenden Laut, und ehe ich mich versah, sprang mir genau dieser verrückte Hund mitten ins Gesicht!

      Mir blieb nichts anderes übrig, als dieses zappelnde und quirlige Etwas mit beiden Armen festzuhalten und mich so gut ich konnte, vor der schlabbernden Zunge zu schützen.

      Nach der ersten wilden Begrüßung wurde der kleine Hund auf einmal ganz ruhig und schmiegte seinen Kopf an meinen Hals.

      „Entschuldige, aber das macht Jever nur bei Leuten, die er mag“, sagte der Junge vor unserer Tür mit verschmitztem Lächeln. „Dann allerdings jedes Mal, wenn er dich trifft. Da wirst du wohl jetzt immer mit rechnen müssen.“

      Während ich den kleinen Kerl auf meinem Arm streichelte, hatte ich endlich Zeit, mir sein Herrchen in Ruhe anzusehen. Er war ein kleines bisschen größer als ich, aber das ändert sich ja in unserem Alter von Monat zu Monat. Wenn er lachte, und das tat er ja gerade, als er sah, wie ich etwas ungeschickt mit seinem Hund umging, dann bildeten sich zwei kleine Grübchen neben seinen Mundwinkeln. Ich glaube, niemand auf der Welt hätte ihm dann böse sein können, ganz egal, was er vorher gerade angestellt haben mochte. Er stand vor mir mit einer Ausstrahlung wie einer aus den Fernsehserien, die für alles eine Lösung haben und immer die richtigen Worte finden. Ich selbst hätte niemals so selbstbewusst dagestanden, hätte ich mich bei neuen Nachbarn vorstellen müssen. Seine schwarzen Haare waren unglaublich dicht und kraus. Sie waren auch recht lang. So lang, dass ich, wären das meine gewesen, sicher Ärger mit meinen Eltern bekommen hätte. Aber der Vater von diesem Jungen hier (Jessie!) trug die Haare ja auch so lang. Allerdings meinte ich, dass er im Gegensatz zu seinem Sohn glattes Haar hatte. Jedenfalls, soweit ich das vom Fenster oben hatte sehen können.

      Ich wollte ihn nicht zu lange anstarren, aber mir fiel nichts ein, was ich ihm sagen konnte. Doch das Problem löste sich von selbst.

      „Ich wollte dich fragen, ob du uns vielleicht kurz helfen könntest, ein paar Sachen nach oben zu tragen. Natürlich nur, wenn du Zeit und Lust hast. Ich dachte, da du vorhin am Fenster so ausgesehen hast ...“

      „Als hätte er nichts zu tun“, ergänzte meine Mutter. Meine Mutter hatte ich total vergessen. Und noch jemanden hatte ich völlig verdrängt. Aus einer Ecke unseres Flurs kamen merkwürdige und doch irgendwie beleidigt klingende Laute an mein Ohr. Lazy!

      Ich drehte mich um und entdeckte meinen eigenen Hund vor meinem Zimmer sitzend, die Ohren herabhängend (das taten sie allerdings immer, aber jetzt sah er dadurch noch viel beleidigter aus!) und leise vor sich hin jammernd. Tja, da hatte ich wohl den unverzeihlichen Fehler begangen und einen anderen Hund auf den Arm genommen!

      Meine Mutter nahm wie immer das Heft in die Hand.

      „Wie ich merke, habt ihr euch ja schon bekannt gemacht. Es kann ja wohl nicht schaden, wenn du ein wenig hilfst, Josef. Vor allem in Anbetracht dessen, worüber wir vorhin gerade gesprochen haben und worüber wir heute Abend noch einmal in Ruhe mit Vati sprechen werden.“

      Mann, sie blamierte mich hier vor meinem vielleicht neuen Freund, und ich hatte nicht den Mut, irgendetwas Cooles zu erwidern. Und sie war noch nicht fertig, doch Gott sei Dank vermied sie das Thema Zeugnis.

      „Willst du nicht einen Moment reinkommen und etwas trinken? Ihr seid doch sicher ziemlich lange unterwegs gewesen und habt wahrscheinlich noch nicht mal einen Kühlschrank oben, stimmt’s? Und wenn ihr beide jetzt ordentlich schleppen wollt, solltet ihr vorher Energie tanken.“

      „Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Seefeld.“ Aha, er hatte sich vorher unseren Namen auf dem Türschild eingeprägt! „Ich muss mich entschuldigen, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Thomas Garcia, aber alle nennen mich Tommy.“

      Und dann sah er mich an und grinste.

      „Und dich nennen sicher alle Joe, habe ich Recht, Josef?“

      „Bingo!“, sagte ich und grinste ebenfalls. „Hast du auch eine Oma gehabt, die deinen Namen auf dem Standesamt eingetragen hat?“

      „Nein, dafür war mein Vater zuständig. Aber das ist eine lange Geschichte.“

      Während er dies sagte, bekamen seine Augen einen seltsamen Glanz, und ich konnte mir keinen rechten Reim darauf machen. Ich wurde etwas unsicher, aber da kam mir jemand zu Hilfe, der immer noch auf meinen Armen saß und schmuste. Jever wurde unruhig und fing an zu zappeln, also stellte ich ihn vorsichtig auf die Beine und wartete darauf, was für einen Anfall der Kleine jetzt wohl wieder bekam. Tommy kam inzwischen zur Tür rein und Mutter machte sich daran, uns etwas zu trinken zu holen.

      „Was möchtet ihr denn?“ rief sie uns über die Schulter zu. „Cola, Apfelsaft oder Wasser?“

      „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich hätte gern ein Mineralwasser mit wenig Kohlensäure.“

      Ich musste wohl ein ziemlich verblüfftes Gesicht machen, denn Tommy lachte.

      „Wasser ist das Beste zum Trinken. Wusstest du nicht, dass Mineralwasser Calcium, Magnesium und Hydrogencarbonat enthält, alles Bausteine, die unser Körper zum Leben braucht?“

      Ich lachte jetzt auch.

      „Ich lebe auch mit Cola! Sag’ mal, redest du eigentlich immer so?“

      „Klar“, sagte er völlig ernst, und ich dachte tatsächlich für einen Moment, au weia, ein Besserwisser! Doch dann grinste er von einem Ohr zum anderen, und ich kapierte, dass er mich reingelegt hatte.

      „Nein, natürlich nicht. Ich mag halt nur Wasser. Das andere klebrige Zeugs macht nur noch mehr Durst. Aber keine Angst, ich habe auch Schwächen!“

      „Nein!“, rief ich mit gespieltem Ernst.

      „Doch! Ich esse Chips. Ich liebe Chips! Ich bin abhängig von Chips! Ich kann keinen Tag ohne sie sein. Das ist doch eine ziemliche Schwäche, findest du nicht?“

      Ich nickte andächtig. Ja, in Chips konnte ich mich auch reinlegen.

      „Welche magst du am liebsten?“, fragte ich.

      „Nur die ganz


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