Das Buch der Gaben. Micha Rau

Das Buch der Gaben - Micha Rau


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die letzten Krümel Chips aus der Tüte hervor und ließ sie sich aus der hohlen Hand in den Mund rieseln.

      „Was meinst du“, meinte er kauend in meine Richtung, „sollten wir nicht noch was unternehmen? Hier gibt es doch in der Nähe so ein Einkaufszentrum, da soll heute Bungee-Jumping stattfinden. Wie wär’s? Das könnten wir uns doch ansehen.“

      Ich war Feuer und Flamme. Da wollte ich schon immer mal zusehen.

      „Ich bin dabei. Und wenn das nichts ist, können wir immer noch ins Kino oder ins Eiscafé gehen. Das ist da alles auf einem Haufen. Ich weiß, welches Einkaufszentrum du meinst. Warst du hier eigentlich überhaupt schon mal die Gegend erkunden?“

      Tommy schüttelte den Kopf.

      „Ich kenne nur dieses Haus, diese Straße und dich. Und Lazy natürlich!“

      „Na, dann nichts wie los! Ich zeig dir mal was von unserer tollen Spießergegend. Es wird Zeit, dass du mal was anderes siehst als nur unser olles Haus.“

      „Euer Haus stammt aus der Jahrhundertwende, hat im Krieg zwei Etagen verloren, und irgendein Nachkriegs-Architekt hat dann die beiden Stockwerke im Möchtegern-Bauhaus-Stil wieder drauf gesetzt, was übrigens ein totaler Stilbruch ist und heute nicht mehr genehmigt würde.“

      Ich war völlig perplex.

      „Woher um alles in der Welt weißt du denn das jetzt wieder? Und was ist ein Bauhaus-Stil?“

      Tommy knüllte die beiden Chipstüten zusammen, hob die Gläser auf und zog dann Lazy an den Ohren, damit der auch mitbekam, dass wir raus wollten.

      „Das ist nicht schwer. Du brauchst dich nur vors Haus zu stellen und nach oben schauen, dann siehst du den Unterschied zwischen den Etagen. Wahrscheinlich hat eine Brandbombe mit Phosphor den Dachstuhl getroffen und in Brand gesetzt. Und nach dem Krieg hat man nicht so darauf geschaut, dass die Häuser wieder genauso aussehen wie vorher. Es musste halt schnell gehen, da so viel kaputt war. Und das Bauhaus wurde 1919 von Walter Gropius gegründet, und der einfache, gerade und kantige Stil hat sich eben als Bauhaus-Stil durchgesetzt. Kannste aber vergessen. Ich mag’s nicht.“

      „Ich auch nicht“, sagte ich wie nebenbei, hatte aber keine Ahnung, wie das Bauhaus denn überhaupt aussehen mochte. Ganz zu schweigen von der Sache mit dem Phosphor. Aber ich wollte nicht noch dümmer erscheinen, als ich wohl tatsächlich war.

      „Willst du nicht mal zu Wer wird Millionär gehen?“, fragte ich.

      „Warum das denn?“

      „Na, weil du alles besser weißt!“, entfuhr es mir. Das Wort besser tat mir sofort Leid, aber da war es schon zu spät.

      Tommy wurde rot.

      „Ich nerv’ dich, stimmt’s?“

      „Quatsch!“, sagte ich und versuchte, schnell abzulenken. „Lern ich auch mal was. Mein Zeugnis war schlecht genug. Und jetzt lass uns endlich gehen.“

      Ich pfiff nach Lazy, der etwas mürrisch wirkte. Wahrscheinlich, weil er vorhin das Wort Einkaufszentrum gehört hatte und wusste, wie weit es bis dahin war.

      Dann fiel mir ein, dass ich auch etwas besser wusste als Tommy, nämlich den Weg zum Einkaufszentrum! Na, das war doch wenigstens etwas.

       *

      Gerade als wir aufbrechen und uns im Wohnzimmer von meinen Eltern verabschieden wollten, platzte meine Schwester Sanne dazwischen. Ich hatte es in den letzten Tagen ganz gut hingekriegt, dass Sanne nicht auf Tommy traf. Ich wusste, dass sie wie eine Klette sein konnte und sich dann unweigerlich in unsere neu gewonnene schöne Freundschaft gedrängelt hätte. Sanne war einfach noch zu jung, und außerdem war sie ein Mädchen. Und noch mal außerdem war sie meine Schwester, und was das heißt, brauche ich niemandem zu erklären, der eine Schwester hat. Als diese meine Schwester nun in das Wohnzimmer platzte und uns erwartungsvoll anschaute, da bereute ich es erst einmal, dass ich noch unbedingt hatte Auf Wiedersehen sagen und, na ja, ich bin ehrlich, noch etwas Taschengeld für den Nachmittag hatte abstauben wollen.

      „Hallo, ich bin Susanne“, sagte meine Schwester und gab Tommy artig die Hand. „Wollt ihr auch ins Kino?“

      „Nein, wir wollen zum Bungee-Jumping im Einkaufszentrum“, erwiderte Tommy, und mir schien es, als sei er schon wieder ein wenig rot geworden. Was gab’s denn an meiner kleinen Schwester, das ihn hatte verlegen werden lassen? Das war doch noch kein Mädchen zum Angucken, das war doch nur ein dürres Gestell zum Streiten.

      „Ach übrigens, ich heiße Tommy“, ergänzte er, „Tommy Garcia, und ich bin über euch eingezogen.“

      Sanne schien mich völlig zu ignorieren. Daran war ich ja eigentlich gewöhnt, aber dass Tommy ausgerechnet auch auf meine Schwester Eindruck machen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Das heißt, wenn ich so darüber nachdachte, dann hatte ich sehr wohl damit gerechnet und sicher genau deswegen Tommy bisher an ihr vorbei geschleust. Ich seufzte innerlich auf. Von jetzt an würde es Arbeit machen, die Klette immer wieder abschütteln zu müssen. Und Sanne bestätigte meine ärgsten Befürchtungen.

      „Die Kinos sind doch auch im Einkaufszentrum. Da können wir doch zusammen hingehen. Nehmt ihr mich mit?“

      Ich wollte nein sagen und das Kino fängt doch erst viel später an und außerdem du nervst und so einige andere Dinge, aber ich kam nicht dazu, denn Tommy war bereits in die Falle gegangen.

      „Klar. Vielleicht können wir erst zum Bungee und danach noch ins Kino. Was meinst du, Joe?“

      Was ich meinte, sagte ich ihm lieber nicht, aber ich nickte lahm.

      „Warum nicht. Wenn Sanne nicht noch stundenlang braucht, um sich zu schminken.“

      Meine Mutter machte ein besorgtes Gesicht.

      „Sagt mal, ihr wollt doch nicht etwa selber springen? Das erlaube ich dir auf keinen Fall, Josef.“

      Ich tat völlig entrüstet.

      „Nein, Mutti. Mach’ dir keine Sorgen. Ich spring’ auf keinen Fall, aber wenn Sanne ... “

      „Ich werd’s ausprobieren.“ Das kam von Tommy, und alle schauten ihn entgeistert an. Mein Vater ließ die Zeitung sinken, in die er sich vorher scheinbar vertieft hatte und blickte sichtlich verärgert auf. Meine Hoffnung auf einen schönen Zuschuss fürs Kino schwand dahin. Mein alter Herr war in letzter Zeit sowieso schon dauernd schlecht gelaunt und mürrisch, und wir alle wussten nicht so recht, was er hatte.

      „Tommy, ich möchte nicht, dass meine Kinder durch dich leichtsinnig werden. Und ich glaube auch nicht, dass deine Eltern von der Idee begeistert wären.“

      „Herr Seefeld, machen Sie sich keine Sorgen. Meine Eltern vertrauen mir. Mein Vater ist ... “, er korrigierte sich und nur ich wusste, was in ihm vorging, „ ... war ein mutiger Mann und niemals leichtsinnig, und das bin ich auch nicht. Das verspreche ich Ihnen.“

      Was Tommy sagte, schien meinen Vater nicht sonderlich zu beeindrucken. Er blickte uns intensiv an.

      „Ihr seid ja Gott sei Dank keine Draufgänger. Ich hoffe, ich kann mich auf euch verlassen.“

      Mit einem vorwurfsvollen Blick auf meine Mutter, die schon ihr Portemonnaie herausgeholt hatte, verschanzte er sich wieder grummelnd hinter seiner Zeitung. Ich atmete auf, nahm den Zwanziger, den Mutter mir gutmütig lächelnd hinhielt und wir machten, dass wir aus dem Wohnzimmer kamen.

      Als wir dann an der Bushaltestelle standen und Tommy unsere Straße rechts und links lang runterschaute, war es mir richtig peinlich, in so einer gutbürgerlichen Gegend zu wohnen. Hier tobte nicht der Bär, sondern höchstens mal ein Eichhörnchen.

      Und dann stellte Tommy die Frage, die unser Leben verändern sollte. Doch an dieser Haltestelle an jenem Samstagnachmittag konnte ich ja wahrlich nicht wissen, was aus dieser Frage und aus allem anderen, was danach passierte, noch resultieren sollte.

      „Was macht ihr denn sonst so am Wochenende? Ich meine, ohne dass


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