Das Buch der Gaben. Micha Rau

Das Buch der Gaben - Micha Rau


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aber auch gar nichts, deutete auf einen Eingang hin. Als wir wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt waren, fühlte ich eine Art Resignation in mir aufsteigen, obwohl es doch eigentlich keinen Grund für so ein Gefühl gab, schließlich konnte man auch so auf diesem Grundstück einiges anstellen.

      Tommy verscheuchte meine Gedanken.

      „Gut. Das wäre der erste Schritt. Machen wir den zweiten.“

      Wir schauten ihn gespannt an.

      „Jeder von uns nimmt sich in Ruhe eine Seite des Hauses vor, und wenn euch irgendetwas auffällt, egal was, ruft ihr. Alles klar?“

      Sofort waren wir wieder Feuer und Flamme und verteilten uns. Ich nahm mir einen Stock, der von einem morschen Baum abgefallen war, um auf meiner Seite des Hauses die stacheligen Äste beiseite schieben und näher an die Wand herankommen zu können. Ich ging äußerst gründlich vor, trat Gestrüpp zur Seite, entfernte einigen Unrat, den vielleicht ein paar Landstreicher hier hinterlassen haben mochten, und suchte so genau wie möglich die Wand nach Anzeichen ab, ob hier nicht vielleicht doch irgendwann einmal eine Tür zugemauert worden war. Aber nichts. Nicht einmal die Spur einer abweichenden Färbung des Putzes oder einer vielleicht sich vorwölbenden Linie, die einen ehemaligen Eingang verraten hätte.

      Ich war kurz davor, der Versuchung nachzugeben, hoch zu springen und mich auf eines der Fensterbretter zu ziehen, um wenigstens einen Blick hinein zu werfen, obwohl ich auch das früher schon probiert hatte, da gellte ein Schrei von der anderen Seite des Hauses zu mir herüber.

      Ich fuhr herum und handelte mir dabei von den Dornen eines Brombeerstrauchs ordentliche Kratzer am Arm ein.

      „Joe!“, schrie jemand, und ich glaubte, es war Janine. Mir fuhr es durchs Herz. Sie schrie Joe und nicht etwa Tommy! So schnell es ging, arbeitete ich mich durch das Dickicht nach draußen und rannte um das Haus herum. Jever und Lazy spürten sofort, dass etwas hier ganz und gar nicht normal war und rannten mir nach.

      Als ich ankam, war Tommy schon dabei, die kleine Gasse, die Janine wohl frei getreten hatte, um an das Haus zu kommen, mit der Machete zu vergrößern. Schließlich standen wir alle schwer atmend und ziemlich aufgeregt bei Janine und schauten uns gehetzt nach irgendwas um, von dem wir nicht wussten, was es denn eigentlich war.

      „Was hast du?“, fragte Tommy, „Was ist passiert? Hier ist doch gar nichts!“

      Janine blickte uns mit einem triumphierenden Lächeln an und kostete ihre folgenden Worte so richtig aus. Schließlich passierte es nicht ständig, dass man mehr wusste als Tommy. Ich fand es richtig schade, dass sie nicht in Gefahr war, schwand schließlich die Möglichkeit, sie in den Arm nehmen zu können.

      Janine weidete sich noch ein paar Sekunden an unseren fragenden Gesichtern. Schließlich nahm sie meine Hand, was mir einen Schlag versetzte und führte mich ein paar Meter weit an der Wand entlang. Dann blieb sie stehen, blickte zurück und zeigte auf eine Stelle an der Hauswand etwa einen halben Meter über unseren Köpfen.

      „Schau dir diese Stelle an und geh dann langsam an der Wand entlang.“

      Zuerst sah ich nichts, doch als ich die Stelle fixierte und langsam und mit möglichst gleichmäßigen Schritten am Haus entlang zurück zu den anderen lief, entdeckte ich es: Eine Zahlenreihe erschien an der Wand, und sie wirkte, als trete sie aus der Wand hervor. Als ob man hochspringen und sie greifen könnte. Ich war völlig verblüfft und blieb stehen. Doch genau in dem Moment, wo ich mich nicht mehr bewegte, verschwanden die Zahlen, als wären sie niemals an der Wand gewesen.

      „Mann!“, sagte ich und ging langsam weiter.

      „Was ist?“, drängten die anderen.

      „Einen Moment“, sagte ich souverän und schritt mit so gut es ging gleichmäßigen Schritten weiter, wobei ich den Blick immer auf die geheimnisvolle Stelle halten musste und so langsam aber sicher den Kopf verdrehte.

      Nach etwa zehn Metern traten die Zahlen zurück und waren schließlich gar nicht mehr zu sehen. Ich drehte mich um und versuchte das Ganze aus der anderen Richtung noch einmal. Und wieder erschien die Zahlenreihe, plastisch und zum Greifen realistisch vor meinen Augen.

      Sanne und Tommy traten vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen. Ich fand es nicht schlecht, für einen Moment lang mehr zu wissen. Aber Janine hatte das zuerst entdeckt, und ich wollte nicht unfair sein.

      „Janine hat tatsächlich etwas entdeckt. Man kann es ganz deutlich sehen. Probiert es aus!“

      Tommy und Sanne schritten nun ihrerseits die Wand ab und starrten verblüfft nach oben. Das sah recht lustig aus, wenn man nur so dabei stand und ihnen zuguckte. Lazy und Jever saßen zu meinen Füßen und versuchten zu verstehen, was diese komischen Zweibeiner da anstellten.

      Da wir alle es kaum glauben konnten, ging jeder von uns die Strecke noch zwei Mal ab. Doch die Erscheinung blieb, ja es schien, als verstärke sie sich bei jedem Abschreiten noch. Schließlich blieben wir in der Mitte stehen und beratschlagten.

      „Es handelt sich um eine Holografie“, sagte Tommy.

      „Was bedeutet das?“, fragte Janine.

      „Der Begriff Holografie stammt aus dem Griechischen und bedeutet vollständige Aufzeichnung. Das darf man hier natürlich nur im übertragenen Sinn verstehen. Eigentlich versteht die Wissenschaft unter einer Holografie ein Bild dreidimensional wiederzugeben, also nicht etwa nur gemalt, das wäre dann zweidimensional.“

      Tommy wartete einen Moment, ob jemand eine Frage hätte, aber so weit waren wir mitgekommen. Tommy übertraf sich wieder mal selbst.

      „Ich denke, ihr alle kennt Hologramme von Geldscheinen, da sind Bilder berühmter Persönlichkeiten eingearbeitet, um das Fälschen schwerer zu machen. Bewegt man den Schein, scheint es, als käme das Gesicht heraus. Und genauso funktioniert es, wenn man an dem Schein vorbei geht.“

      „So wie hier am Haus“, nickte Sanne.

      „Genau. Hat jemand eine Idee, wozu das hier gut sein soll?“, fragte Tommy. „Ich weiß ja einiges, aber dazu fällt mir nichts ein.“

      In diesem Moment fand ich ihn wieder mal richtig sympathisch, und ich glaube, da ging es mir nicht allein so. Tommy wusste zig Mal mehr als wir, aber er würde sich niemals etwas darauf einbilden. Einige Minuten standen wir an der Wand herum, die Hunde gingen derweil wieder auf Erkundung und nichts, aber auch gar nichts fiel uns ein. Dann kam ausgerechnet meiner Schwester die Erleuchtung.

      „Es sind Zahlen, stimmt's?“

      „Klar, Zahlen“, stimmte Tommy zu, „Alle irgendwo zwischen sechzig und neunzig, wenn ich mich recht erinnere.“

      „Wie wär's, wenn wir sie aufschreiben?“

      Wir schauten uns an und ich konnte sehen, wie es in Tommys Kopf arbeitete.

      „Das ist eine richtig gute Idee, Sanne. Wenn wir sie ruhig vor uns sehen, könnten wir vielleicht mehr damit anfangen. Hat jemand was zum Schreiben dabei?“

      Es stellte sich heraus, dass niemand an einen Stift gedacht hatte, wozu auch, in einem Garten? Selbst Tommy mit seinem unergründlichen Rucksack musste passen. Schließlich kam ich auf die Idee, ein Stück von dem frei gelegten Weg als Tafel zu benutzen und mit einem Stock die Zahlen in den Sand zu kratzen.

      „Bingo!“, sagte Tommy und fing an, die Strecke nochmals abzugehen.

      Während er hin und her stapfte, rief er mir die Zahlen zu und ich schrieb sie mit dem Ast auf den Weg. Schließlich war er fertig, und eine recht ansehnlich lange Zahlenkolonne verzierte den Sand. Wir scharten uns um die geheimnisvolle Botschaft und machten ratlose Gesichter. Für einige Minuten herrschte tiefes Schweigen und jeder von uns Vieren zermarterte sich das Gehirn, was diese merkwürdige Reihe wohl bedeuten mochte:

      68 73 69 83 69 87 79 82 84 69 83 73 78 68 68 73 69 84 85 69 82

      „Es muss einen Sinn geben“, murmelte Tommy. „Es muss!“

      Janine hockte sich vor die Zahlenreihe in den Sand und murmelte etwas vor sich


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