Wandlerin. Ana Marna
Bernart Dierolf hielt sich wacker. Für einen Hobby-Biker fuhr er einen heißen Reifen und scheute kein Wagnis. Nun, wenn man Wolf war, konnte man sich wohl einige Risiken leisten. Tiger hatte sich inzwischen an den Gedanken gewöhnt, dass es Werwölfe gab. Das hieß aber nicht, dass er diese Biester sympathisch fand.
Runner war sein Bruder. Das war klar. Ihm vertraute er, wenn nötig, auch sein Leben an. Doch die Kriegerwölfe in Europa waren ein anderes Kapitel. Sie waren eindeutig gefährlich und lebten nach eigenen Regeln und Moralvorstellungen. Nun ja, das taten die Road Bastards natürlich auch. Weswegen sie vermutlich so gut mit den Wölfen zusammen arbeiteten. Freundschaft verband sie aber keinesfalls. Sie respektierten sich, das war auch schon alles.
Bernart Dierolf war ihm dagegen immer noch ein Rätsel. Dieser Wolf war genauso knurrig und brummig wie Runner und strahlte eine düstere Seite aus, die Tiger noch nicht ergründen konnte. Runner hatte ihm verraten, dass Dierolf ein Außenseiter in seinem Volk war, und lange Zeit von seinen Artgenossen gejagt wurde. Außerdem war er wohl ziemlich alt. Runner hatte ihn auf über dreihundert Jahre geschätzt, und Tiger würde dem nicht widersprechen. In den Augen des Wolfes konnte man lesen, dass er schon viel erlebt und mit Sicherheit auch durchlitten hatte.
Trotzdem wirkte er nicht verbittert oder lebensmüde.
Aber er hielt Abstand. Und beobachtete.
Tiger fing an, Dierolf trotz seiner Rätselhaftigkeit zu mögen. Zumal dieser sich nahtlos in die Hierarchie und die Aktivitäten der Outlaws einfügte. Die Jungs genossen es, den „Alten“ zu piesacken, und drückten ihm sämtliche ungeliebten Arbeiten auf. Er schluckte es ohne Murren, so wie es sich für einen angehenden Prospect gehörte. Manchmal hatte Tiger sogar den Eindruck, dass der Wolf sich amüsierte.
Er war gespannt, ob das so bleiben würde. So manch gestandener Mann hatte schon nach wenigen Wochen aufgegeben und die Anwärter-Zeit abgebrochen. Oder sie schlichtweg nicht überlebt. Dierolf traute er es zu, durchzuhalten. Der Mann wirkte wie einer, der, einmal angefangen, alles durchzog. Egal wie. Und das imponierte Tiger.
Bisher war der Wolf auch in den MCs gut angekommen. Er hatte sich bei Bedarf ein Mädchen gekrallt, einige Schlägereien mühelos überstanden und war respektvoll geblieben. Gute Voraussetzungen für ein Leben bei den Bastards.
Das Einzige, was nervte, war, dass Dierolf inoffiziell Babysitter spielte. Er mischte sich nicht in die Geschäfte der Bastards ein, doch für Tigers Geschmack bekam er trotzdem zu viel mit.
Kriminalität war auch bei Wölfen nicht erwünscht, das hatte Tiger von Chief Martinak mehrfach unter die Nase gerieben bekommen. Natürlich hielt ihn das nicht davon ab, seinen Geschäften trotzdem nachzugehen. Sie waren schließlich Teil seines Jobs. Doch je weniger die Wölfe erfuhren, desto besser.
Und Bernart Dierolf war ein Unsicherheitsfaktor, da gab er sich keinen Illusionen hin. Je mehr der Wolf erfuhr, desto mehr Ärger konnte er machen. Aber noch war Tiger nicht eingefallen, wie er seinen „Babysitter“ unauffällig loswerden konnte. Und Runner war in dem Fall auch keine Hilfe, zumal er sich mit Dierolf immer besser verstand. Die zwei Wölfe hatten zunächst Abstand gewahrt. Aber das Zusammenfahren schweißte automatisch zusammen und die beiden schienen sich inzwischen zu respektieren.
Tiger warf einen Blick auf sein Navi. Zwei Stunden Fahrt lagen noch vor ihnen. Zeit für einen Tankstopp.
Bei dem nächsten Hinweisschild gab er das entsprechende Handzeichen. Kurze danach fuhren sie auf den ausgewiesenen Rastplatz, direkt vor die Zapfsäulen.
Wie immer fielen sie auf. Neugierige, vor allem aber furchtsame Blicke glitten über die Biker.
Tiger nickte Dierolf zu, während er abstieg, und grinste dabei zufrieden. Doch, es war äußerst angenehm, wieder einen Anwärter in seiner Truppe zu haben.
Bis auf Dierolf marschierten alle Richtung Shop.
Der Wolf fing kommentarlos an, die Maschinen zu betanken.
Eine halbe Stunde später waren die Bikes mit Sprit und die Biker mit Kaffee abgefüllt.
Auch Dierolf konnte einen Becher der schwarzen Plörre ergattern, mit dem er sich sofort wieder nach draußen verzog, um auf die Bikes aufzupassen. Zwar war es äußerst unwahrscheinlich, dass irgendjemand es wagen würde, den Motorrädern zu nahe zu kommen, aber Tiger ging kein Risiko ein. Die Gepflogenheiten dieses Landes waren ihm noch zu fremd, und sie konnten sich keinen unnötigen Ärger leisten.
Runner stieß ihn von der Seite an und zeigte mit dem Kinn nach draußen.
Tiger folgte seinem Blick und erhob sich dann langsam.
Bernart Dierolf hatte seine lässige Haltung verloren und stand wachsam mit verschränkten Armen vor den Bikes. Jetzt sah Tiger auch den Grund für seine Anspannung.
Acht schwere Motorräder rollten auf die Zapfsäulen zu. Ihre Fahrer wirkten wie aus einem finsteren Bikerfilm. Schwarzes Leder von oben bis unten, schwarze, geschlossene Helme und eine ebenso schwarze Kutte. Auf dem Rücken stand der Schriftzug „Shadow Riders MC“. Das Logo darunter zeigte einen schwarzen Harleyfahrer auf weißem Grund. Tiger vermisste die Orts-Kennzeichnung. Ob das auch Nomads waren? Ein wanderndes Chapter?
„Fuck!“, murmelte Runner neben ihm.
„Warum?“
„Wölfe!“, kam die leise gezischte Antwort.
Tiger hob überrascht die Augenbrauen. „Alle?“
„Sieht so aus!“
Runner wirkte ebenso überrascht wie er selbst.
Der Clubname sagte Tiger nichts, was nicht viel heißen musste. MCs gab es wie Sand am Meer. Allerdings bezweifelte Tiger, dass es viele Clubs gab, deren Mitglieder aus Werwölfen bestanden. Auch Runners Gesicht ließ ihn das bezweifeln.
Inzwischen waren auch die anderen Nomads aufmerksam geworden und sie stiefelten geschlossen nach draußen.
Dass Ärger in der Luft lag, rochen sogar Menschennasen.
Die Shadow Riders waren mittlerweile abgestiegen und hatten sich vor Dierolf aufgebaut. Dieser ließ sich ganz offensichtlich nicht davon einschüchtern, was ihm in Tigers Augen einen weiteren Pluspunkt einbrachte. Ohne ein Wort stellte er sich neben Dierolf und verschränkte ebenfalls die Arme. Runner begab sich auf Dierolfs andere Seite, während die restlichen Nomads sich hinter ihnen positionierten.
Niemand sprach ein Wort, aber die Luft war geschwängert mit Aggressivität und Misstrauen. Eine gefährliche Mischung.
Schließlich zog sich der Anführer der Biker den Helm vom Kopf und Tiger blickte in wolfsgrüne Augen. Die anderen Biker folgten dem Beispiel.
Tiger zwang sich, nicht zu blinzeln. Runner hatte tatsächlich recht (nicht, dass er es eine Sekunde bezweifelt hätte). Alle Biker hatten Wolfsaugen. Und alle wirkten, freundlich ausgedrückt, ziemlich angefressen. Der President der Truppe ließ seinen Blick zwischen Runner, Dierolf und Tiger schweifen und schien unentschlossen zu sein, wen er anzusprechen hatte.
„Ich bin Tiger“, nahm dieser ihm schließlich die Entscheidung ab. „President der Nomads von den Road Bastards. Gibt es irgendein Problem?“
„Sag du es mir“, knurrte der andere zurück. Seinen Patches auf der Kutte hatte Tiger längst entnommen, dass vor ihm Storm, President der Shadow Riders und ein ganz böser Junge stand. Patches waren da sehr informativ, wenn man sie lesen konnte. Genauso war für Storm zu sehen, dass Tiger auch kein Waisenknabe war. Zumindest was die Menge an Patches anging, waren sie sich ebenbürtig. Und dass sich beide zu den Outlaws zählten, war ebenso ersichtlich.
Storm war groß. Nicht ganz so groß wie Tiger, aber er kam nahe heran. Breite Schultern und dicke Oberarme verrieten, dass er kein leichter Gegner sein würde. Der President trug lange schwarze Haare und einen genauso schwarzen Zottelbart. Das Misstrauen quoll aus jeder seiner Poren.
„Wir haben keins“, grinste Tiger und hielt dem Blickduell stand.
„Was machen deutsche Bastards hier?“