Schüchterne Gestalten. Peter Bergmann
Sonnabend, 13. November 2010, am ganz frühen Morgen
Sonnabend, 13. November 2010, in den späten Abendstunden
Sonntag, 14. November 2010, noch früh am Morgen
Montag, 15. November 2010, ein Novembertag
Dienstag, 16. November 2010, noch tief in der Nacht
Dienstag, 16. November 2010, sehr spät abends
Mittwoch, 17. November 2010, ein besonders grauer Tag
Mittwoch, 17. November 2010, am Abend
Donnerstag, 18. November 2010, zu früh
Freitag, 19. November 2010, Geburtstag
Freitag, 19. November 2010, spät am Abend
Sonnabend, 20. November 2010, auf der W36
Sonnabend, 20. November 2010, in der Nacht
Schüchterne Gestalten – ein IT-Krimi
Wie lange war er eigentlich schon unterwegs?
Schwer zu sagen. Nein, eigentlich wusste er es schon sehr genau. Sie sind gegen Mittag weggefahren, weil er bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder in Deutschland sein wollte. Die Paranoia befiel ihn immer, seit er und seine Familie einmal auf einer Raststätte in Polen überfallen wurden. Mitten in der Nacht. Nichts war mehr übriggeblieben. Der Stress danach war ihm noch in allerbester Erinnerung; mit Versicherungen und Behörden musste er sich monatelang herumschlagen.
Heute war die Fahrt ziemlich dumm gelaufen. In der Nähe von Krakau verloren sie infolge eines Unfalls viel zu viele Stunden. Aber anhalten kam nicht in Frage, auch wenn sie neben ihn einfach nur nervte.
Sie saß auf dem Beifahrersitz, wollte schon vor Stunden aufs Klo und schluckte es mindestens seit Krakau runter. Frauen schienen nicht so richtig auf Ausdauer programmiert zu sein. Immer muss man für sie anhalten. Wollte er aber nicht. Nicht hier und nicht jetzt! Nach kurzem Streit setzte er sich durch und sie arrangierte sich notgedrungen. Seitdem herrschte zwischen ihnen eisiges Schweigen. Zum Glück hatte er auf seinem Smartphone genug Musik gespeichert, die jetzt für ihn die Spannungen im Wageninneren erträglich machte.
Denn er musste nachdenken, und kam ihm seine ruhige Beifahrerin gerade recht.
Die Gespräche in Lemberg waren sehr gut gelaufen. Fast zu glatt, wie er meinte. In der nächsten Woche sollten die Chefs aus der Ukraine nach Vesberg kommen und die Verträge unterschreiben. So war es abgemacht. Sie sollte oder wollte schon jetzt mitkommen. So genau konnte er es nicht einordnen, was genau ihr Auftrag in Vesberg war.
Jedenfalls hatte er jetzt ein Problem; ein etwas Größeres sogar. Er war schon einige Male in Lemberg und jedes Mal ging es dort heftig, meist recht feucht, zur Sache. Das was er sonst tagsüber an Wasser trank, ging dort üblicherweise als Wodka durch die Kehle. Auch durch seine. Gezwungener weise konnte dem Gelage nie ausweichen.
Als er eines Morgens mit heftigen Kopfschmerzen in seinem Hotelzimmer aufwachte, lag sie neben ihm. Er schleppte sich ins Bad und dachte über die letzten Stunden nach. Ein Grinsen überkam ihm, als er sich nach und nach an die Nacht erinnerte. Oh Mann, sie war richtig gut. Das Grinsen wurde größer, als ihm einfiel, dass er noch öfter nach Lemberg musste und er viel Spaß mit ihr haben kann.
Nun saß sie als Problem neben ihm. Sie hatten es mit dem Paten so verabredet, dass sie mit nach Vesberg kommt und sich dort ein Bild von seiner Firma machen durfte. Pate, so hatte er seinen Vater heimlich getauft, weil der nichts anderes war: ein Pate.
In Lemberg regierte wie überall auch die Vorsicht. Dort noch mehr als in Vesberg. Bevor Verträge gemacht und begossen wurden, wollten die Bosse ziemlich genau wissen, ob seine Firma seriös war, wie sie arbeitete und überhaupt wer sie eigentlich waren. Ihm fiel nichts dagegen ein und so musste er widerwillig zustimmen; sie mit nach Vesberg zu nehmen und sich um sie zu kümmern. Was die Bosse wohl nicht wussten – er und sie verbrachten inzwischen einige Nächte zusammen.
Quatsch, die Bosse wussten es ganz sicher. Dessen war er sich sicher.
Und nun stand er vor einem Problem – wie soll er sie vor seiner Frau und seiner Familie geheim halten? So groß war Vesberg nicht, Deutsch konnte sie kaum und dass er sich um sie kümmerte, davon gingen ihre Chefs, seine künftigen Geschäftspartner einfach aus. Alles andere wäre tödlich für das Geschäft; für beide Seiten.
Seine Frau… Ach nein, um die ging es ihm nicht. Sie war früher sehr hübsch; jetzt aber eher fad. Die Wiedervereinigungsphase verstand Sie als ehemalige Mitläuferin nie so richtig, geschweige denn machte aktiv als Widerstandskämpferin mit. Jetzt lebte sie in der Vergangenheit weiter. Sein Sohn war ihm viel wichtiger und wenn bekannt wurde, dass er mit der Schönen, die jetzt verkniffen auf der Beifahrerseite saß und missmutig nach draußen in die Nacht schaute, schon sehr vertraut war, flog er zu Hause ganz sicher raus.
Geschäft hier, Familie da und etwas Freude nebenbei. Warum muss das Leben immer so verdammt kompliziert sein? Wenn er mit ihr und seinem Sohn zusammen neu anfangen würde, dann … ach nein, seine spießige Frau, diese verkappte Genossin war so verkrampft, sie würde extra für ihn ein neues Bautzen aufmachen und ihn dort alleine verhungern lassen.
Für ihn gab es nur einen Ausweg aus dieser Misere: Er musste mit seinem Vater reden. Noch verstanden sich beide recht gut, aber er wurde immer älter und unübersehbar schrulliger. Von Lemberg aus versuchte er das Schlimmste zu verhindern und ihn dazu zu bewegen, dass sie in Lemberg blieb. Aber was hatte sein Vater im Sinn? Natürlich, nur das Geschäft. Und ein Zucken ein paar Körperregionen weiter unten wohl auch. Nein, er freue sich, wenn sie mitkommt und er ihr Vesberg zeigen kann. Wohl nicht nur Vesberg. Immerhin blieb ihm nicht verborgen, dass sein Vater kein Kostverächter war und sich schon immer das genommen hatte, was ihm gefiel.
Unterwegs, irgendwo im Nirgendwo, hatte sein Vater einige Male versucht, ihn anzurufen. Als dann wegen der schlechten Verbindungen das Gespräch doch noch zustande kam, wollte er nur wissen, ob seine Verhandlungen in Lemberg gut waren, ob alles klappt und das Geschäft in der nächsten Woche unter Dach und Fach gebracht werden könne. Wie es ihm ging, nach einer Woche Komasaufen in der Ukraine, war seinem Vater völlig egal.
Warum er seinen Vater Pate nannte, wusste er nicht mehr ganz genau. Er buchte es einfach als unverarbeitetes Kindheitstrauma ab. Sein Alter war nie leicht, sehr auf sich fixiert und in den letzten Jahren nur noch die Firma im Kopf. Spätestens als er auf Druck seines Vaters, Enterben und ähnlicher Unsinn begleiteten heftige Streitereien, in die Firma eintrat und sich als Außenminister, wie er sich sah, profilierte, wurde ihm klar: sein Vater hätte durchaus auch in Italien seinen Weg gemacht: Sein Reich, seine Familie und manchmal etwas skrupellos, wenn es dann der Sache diente, seine Firma. Wobei skrupellos immer relativ zu sein schien, denn sein Geschäftspartner dürfte seinem Vater in dieser Hinsicht um Längen voraus sein.
Aber