Der Heinrich-Plan. Irene Dorfner

Der Heinrich-Plan - Irene Dorfner


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Sie machte eine gute Figur und ein paar Kollegen sahen sie verstohlen an. Aber keiner von ihnen würde sich mehr getrauen, denn sie war mit Stefan Feldmann zusammen, und vor dem Leiter der Spurensicherung hatten sie jede Menge Respekt.

      „Habt ihr irgendwelche Kleidungsstücke gefunden?“

      „Nein, absolut nichts. Wir werden die Suche ausdehnen. Hier etwas zu finden ist nicht so einfach. Sehr viel Gestrüpp und jede Menge Gebüsch. Wie sieht es bei euch aus?“

      „Nicht gut, Anna,“ sagte Leo und starrte auf die Leiche. „Christine meint, er ist schon eine Weile tot und liegt noch nicht lange hier. Äußerlich hat er keine Verletzungen, auch an den Fußsohlen hat er keinen einzigen Kratzer. Zwischen seinen Zehen ist Sand. Wo kommt der her? Ich weiß ganz sicher, dass es hier weit und breit weder ein Gewässer, noch Sand gibt. Die Leiche muss hergebracht worden sein. Aber wie? Auch wir mussten zu Fuß gehen. Stell dir mal vor, welche Anstrengung das ist, eine Leiche bis hierher zu tragen.“

      Anna sah sich die Fußsohlen des Toten an und zog die Schultern nach oben. Auch ihr kam das merkwürdig vor, aber jetzt war die Suche nach Beweisstücken wichtiger. Sie ging wieder zu den anderen. Sie hoffte darauf, etwas zu finden, was die ganze Sache erklären würde. Sie mussten sich beeilen, bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb nicht mehr viel Zeit.

      „Wir bringen den Jungen in die Pathologie, dort werde ich ihn mir genauer vornehmen. Hier vor Ort kann ich nicht mehr tun,“ sagte Christine bestimmt und stand auf. Sie winkte einigen Kollegen zu und sprach mit ihnen.

      „Wenn du mich nicht mehr brauchst, mache ich mich mit meinem Kunden auf den Weg,“ sagte Christine und Leo nickte zustimmend. Er war froh, dass seine Freundin aus der Sonne kam, denn die kurzen, braunen Haare klebten an ihrem Kopf, der immer noch krebsrot war. Das hier war für sie viel zu anstrengend.

      „Du setzt dich erst noch ein paar Minuten in den Schatten, trinkst eine Flasche Wasser und ruhst dich aus. – Keine Widerrede!“, fügte er sofort hinzu, da Christine bereits Luft holte, um etwas zu erwidern. Zu seinem Erstaunen ging sie ohne ein weiteres Wort tatsächlich in den Schatten und setzte sich.

      „Braves Mädchen,“ sagte Leo. „Du gehst erst, wenn du dich mindestens 20 Minuten ausgeruht hast. Deine Leiche läuft dir nicht davon. Es ist keinem von uns geholfen, wenn du vor übertriebenem Ehrgeiz aus den Latschen kippst. Wenn wir hier fertig sind, schau ich bei dir in der Pathologie vorbei. Hast du mir zugehört und mich auch verstanden?“

      „Ja, schon gut,“ keuchte Christine. Sie konnte tatsächlich eine Pause gut gebrauchen. Längst hatte sie es bereut, darauf bestanden zu haben, mitzugehen. Sie hätte auf Leo hören sollen, denn das war für sie die reinste Tortur und sie hatte noch den ganzen Rückweg vor sich. Ihr grauste davor. Andererseits war sie aber auch froh, mitgegangen zu sein, denn der Fall war überaus interessant. Sie konnte es kaum erwarten, die Leiche genauer zu untersuchen.

      Die Polizisten suchten noch einige Stunden, jedoch ohne Ergebnis. Sie hatten absolut nichts gefunden. Sie gingen zurück zum Parkplatz, um nicht doch noch in die Dunkelheit zu geraten, was auf der Schwäbischen Alb ein Desaster wäre. Es gab jedes Jahr immer wieder Menschen, die die Natur und ihre eigenen Kräfte maßlos unterschätzten und gerettet werden mussten.

      Am Parkplatz angekommen, fuhren sie sofort los. Leo brauchte sich nicht vorher mit seinen Kollegen absprechen, wann und wo sie sich treffen würden. Es war klar, dass jeder ins Präsidium fuhr und seine Arbeit machte, auch wenn es Samstagabend war.

      Anna und Leo gingen in ihr gemeinsames Büro, das sie sich seit dem Weggang eines Kollegen teilten. Man konnte genau erkennen, welcher Schreibtisch zu wem gehörte. Annas Schreibtisch war ordentlich und hatte diesen typisch weiblichen Touch: Hier eine Pflanze in einem farbigen Übertopf, dort eine kleine rosafarbene Figur, die wohl einen Elefanten darstellen sollte. Ein weißes Schreibset lag ordentlich an der oberen Kante der sauberen Schreibtischunterlage, eine gespülte Kaffeetasse stand neben dem Telefon.

      Leos Schreibtisch dagegen war übersät mit Papieren und Ordnern. Kreuz und quer lagen Kugelschreiber mit verschiedenen Werbeaufdrucken, von denen er selbst nicht wusste, woher er sie hatte. Die Schnur seines Telefons war ein einziger Klumpen und der fleckige Kaffeebecher klebte auf dem Tisch. Beim besten Willen hätte hier kein Deko-Artikel seinen Platz gefunden. Anna hatte ihm zu ihrem Einzug ins Büro die gleiche Topfpflanze geschenkt, wie die ihre, aber sie war ihm ein paar Mal runtergefallen. Er hatte auch vergessen, sie zu gießen. Wenn er ehrlich war, gefiel ihm so ein Schnickschnack auch nicht. Er war froh, als er sie wieder vom Hals hatte und sein Schreibtisch für seine Begriffe wieder übersichtlich war.

      „Bei den Vermisstenmeldungen ist niemand dabei, auf den die Beschreibung des Toten passt. Ich gebe sofort ein Foto des Toten an die Medien raus. Eine Beschreibung habe ich auch verfasst. Sieh mal, ob die so okay ist oder ob dir noch etwas einfällt,“ sagte Anna und reichte ihm ein Blatt Papier. Leo sah sich das Foto und die Beschreibung genau an und nickte zustimmend.

      „Männlich, weiß, ca. 22 Jahre alt, 1,85 Meter groß, sportliche Figur, dunkelblonde, kurze Haare, braune Augen, keine besonderen Merkmale. Ja, das ist gut so, gib es weiter. Vielleicht hat der Junge hier Urlaub gemacht, wir sind hier schließlich in einem beliebten Urlaubsgebiet. Gib bitte die Suchmeldung auch an alle Polizeidienststellen raus, und zwar überregional. Und natürlich an alle Zeitungen, Radio- und Fernsehsender.“ Leo war immer sehr betroffen, wenn er es mit einem jungen Opfer zu tun hatte.

      Anna machte sich umgehend an die Arbeit. Sie scannte die Suchmeldung in ihren Computer und schickte sie an alle Dienststellen der Polizei, sowie an die Medien. Mit dem neuen Computerprogramm war das ein Kinderspiel. Leo hatte sich mit dem Programm noch nicht befasst, er stand mit Computern im Allgemeinen auf Kriegsfuß. Er war froh, wenn er damit nichts zu tun hatte. Zum Glück hatte er Anna, die in solchen Dingen perfekt war.

      Das Telefon klingelte. Es war Michael Zeitler, der neue Leiter der Polizei Ulm.

      „Ich möchte Sie darüber informieren, dass der Todesfall auf der Schwäbischen Alb in unserem Zuständigkeitsbereich liegt. Der Fall gehört Ihnen,“ brummte Zeitler.

      „Vielen Dank,“ sagte Leo knapp.

      „Wissen wir schon etwas?“

      „Wir stehen noch ganz am Anfang. Bei dem Opfer handelt es sich um einen jungen Mann Anfang 20. Die Todesursache steht noch nicht fest. Bezüglich der Identität des Toten gibt es keinen Hinweis, eine überregionale Suchmeldung ist raus.“

      Zeitler legte ohne ein weiteres Wort auf. Ganz schön unfreundlich, der neue Chef!

      Anna sah ihn fragend an.

      „Das war Zeitler, der Fall gehört uns.“

      Leo sah auf die Uhr, es war inzwischen 23.30 Uhr. Zeitler arbeitete um diese Uhrzeit? Und das an einem Samstag? Er war überrascht und auch beeindruckt. Trotzdem hätte Zeitler etwas freundlicher sein können!

      „Ich gehe zu Christine, vielleicht hat sie in der Zwischenzeit etwas Brauchbares für uns. Du gehst nach Hause und ruhst dich aus. Es reicht, wenn sich einer von uns die Nacht um die Ohren schlägt. Wir treffen uns morgen um 8.00 Uhr.“

      Leo ging in die Pathologie, die sich im Keller des Polizeigebäudes befand. Für ihn war klar, dass Christine um diese Uhrzeit noch bei der Arbeit war. Er hatte heute auf der Schwäbischen Alb deutlich das Funkeln in ihren Augen gesehen. Bei so einem Fall dachte sie gar nicht daran, nach Hause zu gehen.

      „Treibt dich die Neugier, Leo?“, fragte Christine, ohne von der Leiche aufzublicken. Sie schien bei sehr guter Laune zu sein, was Leo nach dem heutigen Nachmittag überraschte. Sie müsste von der Anstrengung ziemlich kaputt sein.

      „Natürlich treibt mich die Neugier. Hast du irgendetwas für mich?“

      „Das ist ein sehr interessanter Fall,“ strahlte Christine ihn an. Man konnte spüren, dass sie sichtlich Spaß an ihrer Arbeit und an diesem speziellen Fall hatte. Von Müdigkeit oder Erschöpfung war überhaupt keine Spur.

      „Spann mich nicht auf die Folter,“ sagte Leo ungeduldig. Erst jetzt bemerkte er, dass Christine im Gesicht und auf den Unterarmen einen satten Sonnenbrand


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