Der Heinrich-Plan. Irene Dorfner
wieder aus der Tür.
Leo las das Papier und Anna sah ihn erwartungsvoll an.
„Der Name des Toten ist Maximilian von Kellberg, 24 Jahre, Student aus Passau. Das Foto ist eindeutig. Die dortigen Behörden haben eine Vermisstenmeldung für von Kellberg vorliegen, und zwar wird er seit dem 14. Juni vermisst.“
Ungläubig sahen sie sich an.
„Wir haben heute den 20. September, er wird schon seit Juni vermisst? Ist das kein Schreibfehler?“, wollte Anna wissen.
„Nein, ich glaube nicht, dass das ein Schreibfehler ist. Das deckt sich mit Christines Vermutung, dass der Tote eingefroren wurde. Ich brauche mehr Informationen über den Toten. Ich rufe den zuständigen Beamten in Passau an, vielleicht habe ich Glück und er arbeitet auch am heutigen Sonntag. Ich möchte ungern bis morgen warten.“
Kaum hatte er ausgesprochen, wählte er die Telefonnummer, die auf dem Fax als Absender der Passauer Polizei ersichtlich war. Gleich darauf meldete sich die Vermittlung und Leo ließ sich mit dem zuständigen Beamten Albert Steinberger verbinden, der heute am Sonntag glücklicherweise Dienst hatte.
„Guten Morgen, Herr Steinberger, hier ist Leo Schwartz, Kripo Ulm. Sie haben uns auf unsere gestrige Anfrage bezüglich einer aufgefundenen Leiche ein Fax mit einer Vermisstenmeldung von Maximilian von Kellberg geschickt. Dazu habe ich ein paar Fragen.“
„Guten Morgen, Kollege. Ich selbst habe Ihnen das Fax geschickt. Was wollen Sie wissen?“
„Zunächst möchte ich bestätigen, dass es sich bei der von uns aufgefundenen Leiche um den von Ihnen vermissten Maximilian von Kellberg handelt, wir konnten ihn einwandfrei identifizieren.“ Leo wartete einen Moment, denn er hörte ein Stöhnen am anderen Ende. „Ist alles in Ordnung?“
„Das trifft mich sehr, weil ich nicht nur den Jungen, sondern auch die Eltern persönlich sehr gut kenne. Bis jetzt hatten wir immer noch die Hoffnung, dass sich Maximilian nur eine Auszeit genommen hat und irgendwann wieder auftaucht, was bei jungen Menschen bekanntlich öfter vorkommt,“ sagte Albert Steinberger betroffen. „Fahren Sie fort, Kollege Schwartz, wie kann ich helfen?“
„Ich möchte zunächst Genaueres über das Verschwinden erfahren.“
Leo hörte Albert Steinberger in seinen Unterlagen blättern.
„Maximilian von Kellberg ist mit drei Studienkollegen am 10. Juni in den Urlaub nach Sylt geflogen. Nach einer großen Strandparty am 14. Juni wurde er nicht mehr gesehen. Die Freunde hatten die dortigen Behörden und die Eltern benachrichtigt, die daraufhin eine Vermisstenanzeige aufgaben.“
„Was hatte Maximilian von Kellberg an, als er zuletzt gesehen wurde?“
„Seine Kollegen hatten angegeben, er trug blaue Badeshorts mit kleinen grünen und orangefarbenen Palmen drauf.“
Leo wurde schlecht. Das war die exakte Beschreibung der Badeshorts, die der Tote auf der Schwäbischen Alb trug.
„Sie können mir bestätigen, dass Maximilian von Kellberg am 14. Juni verschwunden ist? Irrtum ausgeschlossen?“, bohrte Leo nochmals nach.
„Ja sicher, es war der 14. Juni. Warum fragen Sie?“, wollte nun Albert Steinberger wissen.
„Weil die Leiche von Maximilian von Kellberg gestern gefunden wurde. Man fand ihn auf der Schwäbische Alb in sehr unwegsamem Gelände. Er war nur mit Shorts bekleidet. Die Shorts ist blau mit kleinen grünen und orangefarbenen Palmen.“
„Das ist doch nicht möglich. Ich verstehe nicht, was Sie mir da erzählen, das gibt doch keinen Sinn. Die Schwäbische Alb ist weit weg von Sylt. Sind Sie sicher, dass es sich um Maximilian von Kellberg handelt? Bitte haben Sie Verständnis für meinen Zweifel, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das in so kurzer Zeit einwandfrei feststellen konnten. Sie haben keinen DNA-Vergleich angefordert. Wenn Maximilian noch die gleichen Shorts trug, muss die Leiche nach so langer Zeit dementsprechend aussehen.“
„Ich bin mir absolut sicher, Herr Steinberger. Wir brauchen keinen DNA-Vergleich. Die Leiche ist in einwandfreiem Zustand. Wir konnten Maximilian von Kellberg nach dem Foto der Vermisstenmeldung eindeutig identifizieren.“
„Wie kann das sein? Was erzählen Sie mir da? Er hat die gleichen Badeshorts an wie zum Zeitpunkt seines Verschwindens und ist quasi unversehrt? Maximilian ist vor über drei Monaten verschwunden. Nein, das kann nicht sein!“
„Wir haben die Untersuchungen noch nicht ganz abgeschlossen. Es kommen heute noch Spezialisten, die sich die Leiche ansehen. Sicher ist nur, dass Maximilian von Kellberg ermordet wurde. Ich würde gerne mit Ihnen, den Hinterbliebenen und natürlich mit den Freunden des Toten sprechen. Dafür würde ich gerne nach Passau fahren.“
„Selbstverständlich, das kann ich verstehen. Melden Sie sich direkt bei mir. Wann möchten Sie kommen?“
„Am besten gleich morgen. Den Eltern muss die Nachricht über den Tod des Sohnes mitgeteilt werden. Sie sagten, dass Sie die Eltern kennen. Wollen Sie mit ihnen sprechen?“
„Ich denke, dass es besser ist, wenn wir das gemeinsam machen. Es gibt bestimmt einige Fragen von Seiten der Eltern, die nur Sie beantworten können.“
„Einverstanden. Könnten Sie die Studienkollegen des Toten bitten, in Ihr Büro zu einer Befragung zu kommen? Günstig wäre morgen Nachmittag.“
„Selbstverständlich, Kollege Schwartz, wird gemacht. Ich muss jetzt erst einmal verdauen, was sie mir eben erzählt haben, das ist einfach unglaublich. Und dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob ich auch wirklich alles verstanden habe. Wir können uns morgen nochmals ausführlich darüber unterhalten.“
Albert Steinberger war geschockt und durcheinander. Verständlich, wenn er den Toten persönlich kannte.
Am späten Nachmittag klopfte Christine an Leos Tür und trat ein. Leo und Anna waren sehr gespannt, was sie zu sagen hatte.
„Ich mache es kurz. Meine Kollegen aus Berlin haben meine Theorie bestätigt. Es handelt sich eindeutig um Mord. Der Junge ist in Salzwasser ertrunken, wurde eingefroren und auf der Schwäbischen Alb vor kurzem erst abgelegt. Die Sandanalyse liegt ebenfalls vor. Es handelt sich um Sand der Ost- oder Nordsee, hierin sind sich die Experten nicht sicher. Hier ist der ausführliche Bericht.“
3.
Am nächsten Morgen machten sich Leo und Anna auf den Weg nach Passau. Nach knapp 3 ½ Stunden Fahrt trafen sie sich am Vormittag mit dem Kollegen Albert Steinberger in dessen Büro. Der Endfünfziger sah genau so aus, wie Leo vermutet hatte. Korpulent, 1,65 Meter groß und unscheinbar. Mit seinen hektischen, kleinen Augen hatte Steinberger seine Umgebung im Blick. Nach einer kurzen Begrüßung übergab Leo den Bericht der Pathologie an den Passauer Kollegen, der diesen ausführlich studierte.
„O mein Gott,“ sagte er schließlich, als er geendet hatte. „Das ist doch der blanke Wahnsinn! Wie soll ich das den Eltern beibringen? Wir kennen uns seit der Studienzeit, ich habe den Jungen aufwachsen sehen.“
„Welche Ermittlungsergebnisse haben Sie bisher in dem Fall Maximilian von Kellberg?“
„Bitte sehr, Sie können selbstverständlich Einsicht in die Akte nehmen.“ Steinberger nahm eine dünne Mappe aus der obersten Schublade seines Schreibtisches und übergab sie Leo. Außer wenigen Zeugenaussagen beinhaltete die Akte keine weiteren Informationen. Schade.
Nachdem sich Steinberger nochmals den Pathologiebericht durchgesehen hatte und er sich ausführlich berichten ließ, wie man Maximilian von Kellberg gefunden hatte, fuhren sie gemeinsam zu den Eltern, was keinem leicht fiel. Das Überbringen von Todesnachrichten an Angehörige war die schlimmste und unbeliebteste Polizeiarbeit. Vor allem, wenn es sich um einen so komplizierten Fall wie diesen hier handelt. Wie würden die Eltern reagieren? Welche Fragen kamen auf sie zu?
Die Stimmung in Leos Wagen war sehr gedrückt, keiner sprach ein Wort. Leo legte sich in Gedanken die Worte zurecht, die er den Eheleuten von