Die Spur führt nach Altötting.... Irene Dorfner
Ihnen irgendwie helfen kann, melden Sie sich. Viel Glück.“
Zeitler sah seinem Mitarbeiter hinterher. Abgesehen davon, dass er jetzt ohne ihn auskommen musste, machte er sich Sorgen. Mit Knoblich war nicht zu spaßen. Wenn er wirklich für den schrecklichen Überfall verantwortlich war, war er zu allem fähig. Und Leo Schwartz stand völlig alleine da.
2.
„Käse oder Schinken?“
Mario Pini erschrak und starrte die Stewardess verwirrt an. Er war mit den Gedanken sehr weit weg und dies waren nach fast drei Jahren die ersten deutschen Worte, die persönlich an ihn gerichtet wurden. Mit einem aufgesetzten Lächeln wiederholte sie gelangweilt ihre Frage. Sie hielt ihm das pappige Brötchen direkt vor die Nase und er lehnte dankend ab. Er hatte panische Angst vorm Fliegen und auf dem Flug von Caracas in Venezuela nach Frankfurt hätte er sich unter keinen Umständen abgeschnallt oder sich auch nur einen Millimeter von seinem Sitz entfernt. Auch nicht zum Pinkeln, was ihm nun mehr und mehr Sorge bereitete, denn das wurde langsam zum Problem. Sofort nach der Landung in Frankfurt, bei der er Todesängste ausgestanden hatte, schnallte er sich bereits ab, obwohl das noch nicht erlaubt war. Er nahm seine wenigen Habseligkeiten und drängelte an allen Passagieren vorbei, die ihm im Weg standen. Er hatte es jetzt sehr eilig, zu einer Toilette zu kommen. Der Aufenthalt in Frankfurt am Main war sehr kurz und bei dem Start mit der nächsten Maschine nach Stuttgart hätte er am liebsten vor Angst in den Vordersitz gebissen, denn er war nun völlig übermüdet, hungrig, leicht reizbar und mit den Nerven am Ende. Zum Glück saß neben ihm nur ein Fluggast, der in eine Zeitung vertieft war und ihn nicht beachtete.
„Wie lange haben wir noch bis Stuttgart?“, fragte er die Stewardess, die deutlich jünger und auch freundlicher war als die auf dem letzten Flug.
„Noch eine knappe halbe Stunde.“
Nicht mehr lange, und er hatte endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Dann war er wieder in Deutschland. Vor drei Jahren hatte er die Schnauze voll gehabt von seinem Beruf als Bankkaufmann und erfüllte sich mit 37 Jahren den schon lange gehegten Wunsch, einmal den Jakobsweg zu gehen. Bis dahin hatte er alles, was er an Infos darüber bekommen konnte, verschlungen und sich nicht nur mental, sondern auch konditionell auf sein großes Ziel vorbereitet. Er hatte sich mit einer großen Party von Familie und Freunden verabschiedet und wollte eigentlich nach drei Monaten wieder zu Hause sein – eigentlich. Wie das Leben so spielte, hatte er auf dem Jakobsweg nette Menschen kennengelernt, die ihn nach Venezuela eingeladen hatten. Er hatte spontan zugesagt. Warum auch nicht? Er war ungebunden und frei in seinen Entscheidungen. In Venezuela blieb er hängen. Er und seine neuen Freunde lebten gemeinsam als Selbstversorger auf einem Bauernhof und je länger er dort war, desto klarer wurde ihm, dass das genau sein Ding war. Zwar musste er körperlich hart arbeiten, aber eigentlich lebten er und seine Freunde in den Tag hinein, feierten, tranken, aßen und genossen ihr Leben in vollen Zügen. Ja, er liebte dieses Lotterleben, kam aber in letzter Zeit ins Grübeln. In drei Monaten hatte er Geburtstag. Die magische vierzig! Sollte das schon alles gewesen sein? Verlangte er nicht viel mehr vom Leben als in den Tag zu leben und nur so viel zu arbeiten, dass man gerade so über die Runden kam? Nachdem er nicht der einzige in der Gruppe war, der so dachte, beschloss er, dass es nun wieder an der Zeit war, in die alte Heimat zurückzukehren. Hier wollte er wieder ein normales Leben führen und freute sich darauf. Vor allem aber freute er sich auf seinen Onkel Giuseppe, Tante Melanie und seine beiden Cousinen Laura und Maria, die er alle schrecklich vermisst hatte. Endlich konnte er sie nach so langer Zeit wieder in die Arme nehmen, schließlich waren sie seine einzige Familie. Auf die Gesichter war er schon gespannt, denn er hatte seinen Besuch nicht angekündigt und wollte sie überraschen. Er war sich sicher, dass sein Platz in Zukunft in Deutschland war und das wollte er natürlich zuerst seiner Familie mitteilen. Von Venezuela aus hatte er sich im Internet über den Kauf eines Bio-Bauernhofes in der Nähe der Familie informiert und die interessantesten Objekte rausgesucht. Er wollte sesshaft werden und eine eigene Familie gründen, die richtige Frau würde er ganz bestimmt noch finden. Bei dem Gedanken dachte er an Conzuela, die er immer Conny genannt hatte und die das aber nicht mochte. Conny brachte ein Mal pro Woche Brot, das in dem vier Kilometer entfernten kleinen Dorf gebacken wurde und wunderbar schmeckte. Als er jetzt an sie dachte, spürte er den Geschmack des Brotes in seinem Mund. Conny! Die Verabschiedung von ihr war sehr schmerzhaft gewesen. Sie hatten sich ein paar Mal getroffen, gingen spazieren, tanzten und lachten. Mit ihr konnte er sich stundenlang unterhalten. Sie hatte einen köstlichen Humor, den er sehr mochte. Es war nichts Tieferes daraus entstanden, was er auch nicht zulassen wollte. Conny war in ihrer Heimat mit ihrer riesigen Verwandtschaft tief verwurzelt und er beneidete sie darum. Und seine Wurzeln lagen nun mal hier in Deutschland bei seiner Familie, davon war er überzeugt.
Die Landung am Stuttgarter Flughafen riss Mario jäh aus seinen Erinnerungen und verlangte ihm wieder sehr viel ab. Er war überglücklich, als er das Flugzeug endlich verlassen konnte. Das würde auf jeden Fall für ihn für lange Zeit der letzte Flug gewesen sein. Mario trat aus dem Flughafengebäude, atmete tief die frische Luft ein, die nach nasser Erde und auch nach Abgasen roch. Er nahm den riesigen Geräuschpegel um sich herum wahr, der ihn zu Anfang in Frankfurt erschreckte. Die ersten schwäbischen Brocken drangen zu ihm durch und er musste schmunzeln. Obwohl er so lange weg war, fühlte er sich nicht fremd. Er bestieg den Bus nach Reutlingen, der nächsten Etappe seiner Reise. Er sah aus dem Fenster und vieles kam ihm vertraut vor. Die saftigen Wiesen, die grünen Hügel und auch an dem Straßenverkehr konnte er sich kaum sattsehen. Schließlich entdeckte er die Achalm, die Burgruine hoch über Reutlingen, auf der er als Schulkind zu den Wandertagen und auch mit seinen Freunden zum Indianerspielen unzählige Male gewesen war. Erst jetzt spürte er, wie sehr er seine Heimat vermisst hatte, und langsam verblassten die Gedanken an Venezuela und an Conny. Damals vor drei Jahren war er innerlich völlig ausgelaugt und an einem Punkt angelangt, an dem er einfach nicht mehr konnte. Dafür gab es ein Wort, mit dem man mittlerweile sehr viel offener umging: Burnout. Sein Arzt hatte ihm diese Diagnose gestellt, die sein Umfeld nicht wahrhaben wollte. Für sie war er einfach nur ausgelaugt. Manche meinten auch, er bilde sich nur etwas ein. Er spürte, wie hinter seinem Rücken getuschelt wurde. Anfangs ärgerte er sich darüber, irgendwann war ihm das gleichgültig. Er haderte mit seinem Leben. Er war sich nicht mehr sicher, ob das, was er bis dato tat, alles so richtig war oder ob er irgendetwas versäumt hatte. Eines Tages schmiss er alles hin. Er kündigte seinen guten Job. Seine Freunde hielten ihn für völlig verrückt. Aber was andere von ihm dachten, war ihm gleichgültig. Ja, er hatte es beruflich weit gebracht und hatte hart dafür gearbeitet, aber das war ihm nicht mehr wichtig. Waren seine Freunde überhaupt seine Freunde? Er kündigte den Mietvertrag für die riesige, moderne Wohnung mitten in Reutlingen mit dem herrlichen Blick über die Innenstadt. Viele hatten ihn beneidet. Als er dann auch noch seinen Porsche verkaufte, den er heiß und innig liebte, wendeten sich viele von ihm ab. Aber er selbst war sich so sicher, dass er das Richtige tat, und war heute sehr dankbar dafür, dass er damals den Mut aufbrachte und sich so entschieden hatte. In den letzten Jahren hatte er erkannt, was er falsch gemacht hatte und warum er so unzufrieden war. Natürlich hatte er sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet, war Mitglied in mehreren Vereinen und hatte einen sehr großen Freundeskreis, aber das erfüllte ihn nicht. Er wollte ein anderes Leben führen und ihm war es egal, was andere von ihm dachten und von ihm erwarteten. Er wollte sich nicht mehr dem Diktat anderer fügen, sondern nur noch seinem Instinkt folgen. Nur Onkel Giuseppe, Tante Melanie und die beiden Cousinen Laura und Maria hielten zu ihm und verstanden ihn. Sie standen hinter ihm und machten ihm keine Vorwürfe oder gar Vorschriften. In den letzten drei Jahren hielt er immer Kontakt mit seiner Familie, was nicht immer einfach war. Vor einigen Monaten hatte er das letzte Mal mit ihnen telefoniert, danach gab es Probleme mit den Telefonverbindungen. Jeder Versuch, seine Familie anzurufen, scheiterte. Aber jetzt war er hier und konnte persönlich mit ihnen sprechen.
Der Bus stoppte in Reutlingen, er war fast an seinem Ziel angekommen. Trotz der langen Reise und dem Schlafmangel stieg er beschwingt aus, atmete tief die Luft der Stadt mitsamt dem Dreck ein, nahm die betriebsame Hektik um sich herum wahr und fühlte sich sofort zuhause. Er ging auf direktem Weg zum Busbahnhof und stieg nach wenigen Warteminuten in den Bus nach Pfullingen, dem Ziel seiner Reise. Dort lebte seine Familie in einem schönen, alten Einfamilienhaus.
Pfullingen!